Der Blaubär lebt

 

„Käpt’n Blaubär ist tot“. Das meldet die Bild. Es ist keine Lüge, keine Fake-News. Leider nicht. Gemeint ist, dass Wolfgang Völz gestorben ist, his master’s voice, die Stimme des Herren, die Stimme des Bären.

Ich habe ihn kaum gekannt – nur von einigen Sprachaufnahmen, bei denen ich dabei war. Er hat mir, wenn ich nichts vergessen habe, einmal eine Postkarte geschrieben. Zu seinem 85. Geburtstag wollte ich ihm gerne eine Kleinigkeit schenken und habe es dummerweise verpasst. Das bedauere ich nun. Ich kann nur jedem empfehlen, in solchen Dingen nicht so nachlässig zu sein, wie ich es war.

Wolfgang Völz hat dem Käpt’n Blaubär nicht nur seine Stimme geliehen. Es war viel mehr – und es war nicht nur geliehen. Es war ein Geschenk. Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil der Beliebtheit, die der Bär für sich verbuchen kann, von seinem Konto eingezahlt wurde. Wenn man heute ein Bild vom Blaubär sieht – sei es eine Kinderzeichnung –, dann hat man sofort die unverkennbar mürrische Herzlichkeit seiner Stimme vor seinem inneren Ohr und muss unwillkürlich schmunzeln.

Wolfgang Völz hat dem Bären die Seele eingehaucht. Der Blaubär ist nämlich viel zu groß für ein Kuscheltier. Man spielt nicht mit ihm, der Blaubär spielt mit uns. Wie macht er das?

 

Man kommt nicht mehr aus dem Staunen heraus

Die Welt der Kinder ist voller Rätsel und Wunder. Um das zu beschreiben, sagt man gerne, dass man plötzlich in einen Zustand geraten ist, bei dem man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Je älter man wird und je mehr einem die Welt entzaubert wird, desto leichter fällt es einem, aus dem Staunen wieder herauszukommen.

Man hat dann eher das Problem, dass man nicht wieder in das kindliche Staunen, das man so gerne noch einmal erleben möchte, hineinkommt. Raus ist leicht, aber wieder rein ist schwer. Doch der Blaubär macht es möglich. Er macht es uns vor.

Dieses bisschen Wasser da in dem ollen Eimer, das ist … dieses bisschen Wasser da, das ist … das ist, das ist … das ist der letzte Rest vom Achten Weltmeer. Früher gab es nämlich acht Weltmeere, müsst ihr wissen. Und dieser einsame Gummistiefel da … nein, nein, das ist kein gewöhnlicher Gummistiefel … darin haust der gemeine Stiefelolm, ein äußerst heimtückisches Wesen. Und dieses seltsame Dreieck, das ihr da in der Rumpelkammer gefunden habt, Kinners, das dürft ihr nicht wegschmeißen. Das ist ein Zacken von Neptuns Krone.

Die Figur könnte leicht lächerlich sein. Es ist ein Opa, der keine rechte Autorität gegenüber den Kleinen hat, die sowieso alles besser wissen. Als Kapitän hat er auch schon bessere Tage gesehen. Mit seinen Lügengeschichten will er uns doch nur einen Bären aufbinden. Doch die Stimme von Wolfgang Völz macht aus dem pädagogischen Versager einen liebevollen Opa, er gibt der abgewrackten Seefahrer- und Abenteuerromantik noch mal eine eigene Stimme. Er lügt nicht wirklich, er ist die Gallionsfigur für eine Fantasie, die es gut mit uns meint und uns auf den Glanz des Paradiesstaubes hinweist, der gelegentlich in den kleinen Dingen aufscheint, und den wir beinahe nicht bemerkt hätten.

 

Die Kunst des Lügens

Wisst ihr eigentlich, wer die Pommes frites erfunden hat? Gut, das wisst ihr womöglich schon. Dann ich will ich mich anderen Fragen zuwenden. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf einige der most frequently asked questions einzugehen, die immer mal wieder an mich heranflattern. Also: Wie war das denn so mit dem blauen Bären? Nun mal ehrlich.

Am Anfang standen Gute-Nacht-Geschichten, die Walter Moers geschrieben und gezeichnet hatte. Das war der Urknall der Blaubär-Legende. Mit solchen Geschichten sollten die Kinder in den Schlaf gelogen werden. Hein Blöd war noch nicht mit an Bord und konnte noch nicht stören. Die Bärchen, von denen man nur die Köpfe sehen konnte, lagen schon im Bett, sie konnten noch nicht mit den Augen rollen, merkten aber sofort, wenn die Geschichte gelogen war.

Davon wollte die ‚Sendung mit der Maus‘ 104 Geschichten. Geschichten in der Art. 104 kann man gut durch 52 teilen. Das ergibt 2. Es reicht dann für 2 Jahre, in denen nicht etwa die Parole „Sonntags nie“ lautet, wie der berühmte Film, sondern: Sonntags immer. Danach sollten die Geschichten wiederholt werden, weil man davon ausging, dass es alle zwei Jahre neue Kinder gibt. Von diesen 104 Geschichten habe ich etwa ein Drittel geschrieben. Wir waren zu dritt am Werk: Walter Moers, Rolf Silber und ich.

Wir haben viel telefoniert, uns aber nicht großartig abgesprochen. Wir haben vor allem aufgepasst, dass es keine Überschneidungen gibt, ansonsten hat jeder gesehen, wie er zurechtkommt. Wir waren ein Team aus drei Einzelgängern: Rolf Silber war als Filmemacher bekannt, Walter Moers als Comic-Zeichner, ich als Kinderbuchautor.

Die Geschichten sind schon verschieden. Die echten Fans können schon lange vor dem Abspann erkennen, ob es eine Folge von Walter Moers, von Rolf Silber oder von mir ist. Als ich genug davon geschrieben hatte, wusste ich, wie es geht, ich hatte das Muster durchschaut und hätte leicht noch mehr Geschichten schreiben können. Aber es hätte dann vielleicht nicht mehr so viel Spaß gemacht wie in der ersten Zeit, als ich bei Morgennebel ins Ungewisse losgefahren bin. Spaß hat es schon gemacht. Nun war ja auch Hein Blöd dabei. Immerhin weiß ich jetzt, wie man lügt.

 

Drehbücher sind zum Drehen da

Meine Tochter mochte die Geschichten nicht. Sie war damals 2 oder 3 Jahre alt (jetzt ist sie 30, da kann man mal sehen, wie lange das schon her ist …), Kinder in dem Alter verstehen keine Ironie, sie mögen keine Doppelbödigkeit. Wenn der Blaubär mit einem Bügeleisen – mit dem Hein Blöd gerade die Plattfische gebügelt hat, die ja gerade deshalb Plattfische heißen, weil sie so platt sind – hinter Hein her rennt und droht „Ich bügele dir gleich deinen Schwanz!“, dann finden Kinder das nicht lustig.

Ihr Herz schlägt für Hein. Der ist lieb. Warum ist der Käpt’n so böse? Hein Blöd ist, wie ein Kind ist: Er ist tollpatschig, hat aber stets gute Laune. Er ist hilfsbereit und möchte alles selber machen, kann es aber nicht. Er ist wie Happy Jack aus dem Song von den Who: they dropped things on his back and lied, lied, lied, but they couldn’t stopp Jack from being happy.

Ich habe mal gehört, dass die Hein-Blöd-Wärmflasche die beliebteste Wärmflasche in Deutschland ist. Es würde mich nicht wundern. Irgendwas macht Hein Blöd richtig. Eine gewisse Wärme geht von ihm aus.

Dann habe ich Geschichten geschrieben, die es nicht etwa im Fernsehen, sondern in Buchform gibt. Ich habe das den Kindern so erklärt: Für das Fernsehen muss man Drehbücher schreiben, ich mag aber lieber Bücher zum Lesen. Deshalb musste ich die Bücher so lange drehen, so lange zurückdrehen, bis wieder normale Bücher daraus geworden sind.

Es stimmt sogar. Als ich klein war, gab es nicht nur kein Farbfernsehen, es gab überhaupt kein Fernsehen. Heute ist das anders. Ein Mädchen hat mir dann die Vorzüge des Fernsehens aufgezählt, damit ich das richtig verstehe. Nichts gegen Bücher, meinte sie, aber Fernsehen sei nun mal besser. Es sei nämlich so – also: Fernsehen ist eine natürliche Fähigkeit, Lesen muss man erst lernen. Das leuchtete mir ein.

 

In achtzig Lügen um die Welt

Dann war der Blaubär tot. Das dachte ich jedenfalls, als es eines Tages eine Käpt’n-Blaubär-Briefmarke gab. Ich war als Junge ernsthafter Sammler und war überzeugt davon, dass alle Helden, die auf Briefmarken abgebildet sind, inzwischen tot sind. Außer Juri Gagarin und Heuss (bei dem war ich nicht sicher). Ich hatte früher sogar gemeint, dass alle, die Bücher geschrieben haben – also Leute wie Mark Twain und Michael Ende – inzwischen tot sind. Es mochte zwar sein, dass es vereinzelt Bücher gab von Leuten, die noch lebten, aber die waren nicht so gut wie die Bücher von toten Dichtern. Es ist nicht der einzige Irrtum meiner Kinderzeit.

Es gab nicht nur Briefmarken. Inzwischen war ein buntes Blaubär-Merchandising herangewachsen mit vielerlei Sachen zum Spielen, zum Anziehen und zum Naschen – einschließlich einer Fußmatte mit Hein Blöd und einer Blaubär-Telefonkarte, mit der man am Telefon lügen durfte.

Ich habe sie alle: den Käpt’n in Lebensgröße (jedenfalls in der Größe, von der Kinder vermuten, dass der Bär aus dem Fernsehen so groß sein müsste), Hein Blöd und die drei kleinen Bärchen. Damit bin durch die Lande gereist und in Bibliotheken vor Anker gegangen.

Einmal war ein etwa dreijähriges Kind im Publikum, das mir erklärte: Den kenne ich … das ist der Blaubär … der kommt immer zu uns … Hier schlich sich eine Ahnung in die Stimme des Kindes. Es merkte plötzlich, dass es nicht alleine im Wohnzimmer war, sondern in der Bibliothek, zusammen mit anderen Kindern, die ebenfalls glaubten, dass der blaue Bär immer sonntags zu ihnen persönlich in die Wohnung kommt. So langsam dämmerte dem Kind, dass das Fernsehprogramm zu allen Kindern kommt. So ist das in der modernen Welt. Das Kind wirkte enttäuscht.

Ich habe deshalb versucht, den Kindern die Figuren wieder nah zu bringen und habe die kleinen Bärchen, Hein Blöd und den Kapitän zum Streicheln ausgeliehen. Dabei habe ich das wahrgemacht, was der Blaubär immer voller Stolz erzählt und was man ihm nicht so recht glaubt. Er sagt bekanntlich gerne, dass er schon überall auf Welt war.

Ich auch.

Der Blaubär war in Australien. Da habe ich mir mit australischen Deutschlehrern eine Geschichte ausgedacht, die erklärt, worum die Flagge Australiens so aussieht, wie sie nun mal aussieht. Ich war mit einem Kreuzfahrtschiff in Island und Spitzbergen und habe mir von den Kindern an Bord erklären lassen, dass die Eisbären früher alle blau waren, bis eines Tages … Einmal ist der Blaubär bekanntlich mit einer ganzen Ladung Eulen nach Athen gefahren, ich bin mit einer ganzen Ladung Lügengeschichten nach Kreta gereist. Der Weihnachtselch ist mit Tempo bis nach Ägypten gelaufen und ich habe vor Madagaskar gelegen und habe vor Madagaskar gelogen. Das ist wirklich wahr.

Mein wunderbares Leben, das ich mit dem blauen Bären geführt habe und das mich in den sieben Weltmeeren herumgeführt hat – bis hin zum Dümmer See –, das habe ich zu einem nicht geringen Teil dem Sound der Stimme von Wolfgang Völz zu verdanken. Das hätte ich ihm gerne selber mal gesagt.

 

 

Weihnachten mit Käpt’n Blaubär

Weihnachtskugeln liegen überall rum, Strohsterne liegen überall rum, angefangene Adventskalender liegen überall rum, blaues Einwickelpapier mit kleinen Ankern drauf liegt rum – kurz gesagt: Das schöne Schiff von Käpt’n Blaubär ist ein einziges Chaos.

Hein Blöd sitzt in der Ecke und singt: „Oh, Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie blau sind deine Blätter!“

„Grün!“, brüllen die kleinen Bärchen im Chor. „Grün, Hein Blöd!“

„Oh, Tannenbaum, oh Tannenbaum …“, Hein Blöd fängt noch mal an. „ … wie rot sind deine Blätter!“

„Grün!“, brüllen die Bärchen wieder. „Grün muss das heißen, du Dösbattel!“

„Ach so.“ Hein Blöd überlegt kurz und fängt noch mal an: „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie weiß sind deine Blätter!“

„Gü-ü-ü-ü-ü-ü-ü-ün!“, brüllen die Bärchen.

„Da ist aber überall so weißes Zeug drauf, nich‘?“, verteidigt sich Hein Blöd und zeigt mit seinen Patschhändchen auf den Tannenbaum.

„Meinst du etwa das Lametta?“, fragt das rote Bärchen.

„Das ist silber, nicht weiß“, verbessert das gelbe.

„Na gut, dann eben silber.“ Hein Blöd fängt mal an. „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie silber …“

„Gü-ü-ü-ü-ü-ü-ü-ün!“, brüllen die Bärchen.

 

 

 

 

Opa kommt.

„Ruhe!“, schnauzt er. „Was ist denn das für ein Gebrüll! Ruhe, sag ich, Ruhe! Weihnachten darf es getrost ein bisschen friedlich zugehen auf meinem Schiff. Weihnachten nennt man bekanntlich auch die ‚stillen Tage‘, da sehnen sich alle nach Ruhe und Frieden.“

Er schaut sich um. „Beim Klabautermann“, brummt er und es klingt nicht gerade so, als wenn er besonders gute Laune hätte, „wie sieht das denn aus!? So ein Durcheinander hab ich mein Lebtag nicht gesehen, das sieht ja aus, als wär hier ein Wirbelwind durchgebraust. Hier wird sofort aufgeräumt, sofort sage ich!“

Die Bärchen maulen ein bisschen.

Hein Blöd ist still.

 

„Jawohl, aufgeräumt wird! Und zwar sofort! Mein Schiff ist kein Wrack! Hier herrscht Ordnung. Gerade vor Weihnachten. Da wird aufgeräumt! Da machen wir uns das hier ein bisschen schön, ein bisschen gemütlich, ein bisschen beschaulich … Was tuschelt ihr denn so? He? Was gibt es da zu tuscheln?“

Da scheint es tatsächlich was zu geben. Die Bärchen tuscheln noch ein bisschen weiter, schließlich sagt das rote: „Na gut, wir räumen auf. Aber erst, wenn du uns ne Geschichte erzählst.“

Opa braust auf: „Kommt überhaupt nicht in … Na gut. Erst ne Geschichte. Einverstanden. Wenn ich euch damit einen kleinen Gefallen tun kann. Da fällt mir auch zufällig gerade eine ein. Also, abgemacht?“

„Abgemacht!“ Das gelbe Bärchen stimmt sofort zu.

Auch das grüne Bärchen ist mit der Vereinbarung einverstanden: „Abgemacht! Erst ne Geschichte, dann räumen wir auf.“

 

„Na, dann hört mal gut zu.“ Opa setzt sich schwerfällig wie eine Seekuh in seinen Sessel. Die Bärchen hocken sich drum herum. Hein Blöd bleibt einfach in der Ecke sitzen.

„Also“, fängt der Opa an, „einmal musste ich mit meinem Segelschiff rechtzeitig zur Weihnachtsinsel. Da kommt man nur sehr schwer hin, müsst ihr wissen, eine Fahrt dahin ist äußerst gefährlich. Ich hatte mein ganzes Schiff voll mit Elchen, mit denen ich dringend zur Weihnachtsinsel musste, weil sie helfen sollten, rechtzeitig die Weihnachtspakete zu verteilen …“

„Elche?“, rufen die Bärchen wie aus einem einzigen Bärenmaul. „Wie bitte? Elche?“

„Aber Opa!“, seufzt das rote Bärchen. „Elche doch nicht!“

„Nein“, brummt das gelbe. „Weihnachtspakete werden nicht von Elchen ausgetragen, nicht von Elchen.“

„Nein, wirklich nicht, Opi“, erklärt das grüne Bärchen in aller Ruhe. „Die werden von rotnasigen Rentieren ausgetragen.“

„Genau“, sagt Hein Blöd. „Rentiere können nämlich viel besser rennen. Deshalb heißen sie ja auch Renntiere.“

„Nein, Elche!“ Opa besteht drauf. „Ich muss es ja wissen.“

„Der Alte verwechselt so langsam die Tiere“, vermutet das gelbe Bärchen und alle drei fangen an zu kichern. Hein Blöd schließt sich mit leichter Verspätung an und kichert auch ein bisschen mit.

„Doch, Opi, ganz bestimmt“, versucht es das rote Bärchen noch mal in Ruhe, „es sind Rentiere. Rentiere. Rentiere.“

 

 

 

 

„Normalerweise schon.“ Das gibt Opa zu. Das ist selten. Er gibt normalerweise nie freiwillig etwas zu. „Und wenn die Rentiere alle erkältet sind? Was dann?“, fragt er streng, „was dann?“

Da sind die Bärchen still. Hein Blöd auch.

„Das kann leicht passieren. Bei dem Mistwetter eigentlich kein Wunder“, fährt der Opa fort und kommt langsam wieder in Schwung. „Und just in diesem Jahr war es passiert. So ein Pech aber auch: Alle Rentiere waren erkältet. Alle. Tja. Da hatten wir das Schlamassel. Da mussten dann eben die Elche einspringen. Die haben sich übrigens gut bewährt. Die Elche sind später noch öfter mal eingesprungen.“

„Weil die so gut springen können?“, fragt Hein Blöd. „Liegt es vielleicht daran? Das hab ich mal irgendwo gehört. Sie sollen sogar sehr gut springen können, deshalb können die auch gut einspringen …“

„Pssst!“, sagen die Bärchen. „Halt die Backen! Weiter!“

Hein Blöd ist still.

 

„Tja, da musste ich also die Elche rechtzeitig zur Weihnachtsinsel bringen“, fährt der gute Opa und erfahrene Seebär fort, „aber da kommt man nur sehr schwer hin, wie ich schon sagte, eine Fahrt dahin ist äußerst gefährlich. In der ganzen Gegend herrscht nämlich absolute Windstille!“

„Absolute Windstille? Wie bitte?“ Die Bärchen haben wohl nicht richtig gehört.

„Und wie bist du da überhaupt vorangekommen?“, fragt das rote Bärchen.

„Mit einem Segelschiff? Hä? Bei absoluter Windstille? Wie das denn, bitte schön? Das geht doch überhaupt nicht. Also wie? Keine Lügen mehr!“, warnt das grüne Bärchen vorsichtshalber.

Schon reden sie wieder alle wild durcheinander:

„Ja, wie denn?“

„Nun sag schon!“

„Das würde ich auch gerne wissen!“ „

Los, weiter! Sag schon! Los, los!“

„Wie soll das denn gehen?“

„Hä?“

 

 

 

 

„Mit Hilfe der Elche.“ Opa bleibt ganz ruhig. „Die mussten alle an Deck antreten und in die Segel pusten: Fffft, fffft, fffft!“

Opa pustet auch, um das anschaulich vorzuführen. „So ging das: Fffft, fffft, fffft. Das war recht mühsam: Fffft, fffft, fffft. Doch so kamen wir wenigstens voran. Wenn auch nur langsam. Aber immerhin. Allerdings hatte ich nicht bedacht, wie sehr die Elche durch das viele Pusten aus der Puste kommen.“ Der gute Opa kommt selber auch aus der Puste, seine Stimme wirkt schon ganz wackelig.

Doch er erzählt wacker weiter: „Aber … aber … für so außergewöhnliche Anstrengungen hatte ich nicht genug Proviant an Bord. Und da war es dann passiert. Die Elche hatten schon am ersten Tag den ganzen Knäckebrot-Vorrat aufgegessen. Da war nichts mehr von da. Alles weg. Es waren nicht mal mehr Krümel übrig.“

Opa schnauft ergreifend. Es wird einen Moment lang still an Bord.

„Da lagen sie nun schlaff an Deck, die armen Elche“, Opa fährt mit leiser Stimme fort, „sie trommelten mit letzter Kraft auf die Planken und riefen so laut sie das unter den Umständen überhaupt noch konnten: Knä-cke-bröd! Knä-cke-bröd! Wir wollen Knä-cke-bröd! Knä-cke-bröd! Sie verlangten immer wieder: Knä-cke-bröd! Knä-cke-bröd! Knä-cke-bröd!“

Käpt’n Blaubär lässt eine kleine Pause entstehen: „Ihr müsst wissen, dass man unter Elchen ‚Knäckebröd‘ sagt, statt Knäckebrot. Die kommen nämlich alle aus Schweden und Umgebung, diese Biester, da spricht man das so aus.“

Die kleinen Bärchen nicken gelangweilt und lassen genervt die Augen rollen. Das hatten sie sich schon gedacht.

„Weiter!“, rufen sie, „weiter, weiter!“

 

 

Opa schüttelt traurig den Kopf. „Es ging aber nicht weiter. Leider nicht. Das war ja das Problem. Ich hatte kein Knäckebröd mehr. Keinen Proviant, nichts. Es war nichts zu knabbern da, nichts, kein Zwieback, kein Studentenfutter, kein Knäckebrot, einfach nichts. Auch nichts zu trinken, kein Wasser, keine Brause, kein Lebertran … nichts, rein gar nichts. Da machten mir die Elche schlapp. Auch die Segel hingen nur noch schlaff am Masten.“

Der Käpt’n schüttelt traurig den Kopf, als müsste er immer noch leiden, wenn er nur daran denkt. Es war aber auch schlimm.

„Oh, weh!“, stöhnt er. „Die Elche hingen schlaff an Deck, die Segel hingen schlaff am Masten. Ein Jammerbild für die gesamte Christliche Seefahrt. Wir saßen fest. Das Schiff bewegte sich keinen Millimeter vorwärts. Es war schrecklich. Dazu kam dann noch die brüllende Hitze. Nicht auszuhalten war das. Sogar ich musste mir die Ohren zuhalten.

 

„Wir müssen uns auch gleich die Ohren zuhalten“, stöhnt das gelbe Bärchen: „Diese brüllenden Lügen aber auch!“

Opa schnauft nur. „Tja …“

„Und dann?“, fragt das rote Bärchen ungeduldig, als ihnen die Pause, die Opa Blaubär macht, zu lang wird.

„Seid ihr dann alle verdurstet und verhungert?“, fragt Hein Blöd und antwortet gleich selber: „Das ist aber schade, Käpt’n, wirklich wahr, das tut mir echt leid.“

„Was habt ihr denn nun gemacht?“, will das grüne Bärchen endlich wissen.

„Ja, was denn nun?“

 

 

 

 

„Nun ja“, sagt Opa, „das war die Not groß. Aber als erfahrener Kapitän, der schon alle Sieben Weltmeere besegelt hat und höchstpersönlich die Reste vom Achten Weltmeer aufbewahrt. Die habe ich bekanntlich in einem Eimer im Lagerraum …“

„Wissen wir schon!“, unterbrechen die kleinen Bärchen.

Na, gut. Opa erzählt weiter: „ Gerade an Weihnachten kommt es auf den richtigen Termin an, wie ihr sicher wisst, da darf man sich nicht verspäten …“

„Wissen wir!“, rufen die Bärchen im Chor.

„Das machte die Sache auch nicht gerade leichter …“, Opa muss noch ein wenig überlegen.

„Was hast du denn nun gemacht?“, will das rote Bärchen wissen.

„Was denn, was denn?“, fragt das gelbe.

 

„Nun ja“, Opa krault sich am Kinn, „da blieb mir … äh … keine andere Wahl … also, keine andere Wahl, keine andere Wahl … keine andere Wahl, da hab ich einfach den nächsten Wal herbeigerufen.“

„Ach, nee, zufällig war gerade ein Wal in der Nähe“, kommentiert das kleine rote Bärchen und man kann ganz deutlich einen gewissen schnippischen Unterton heraushören, „so ein Zufall aber auch.“

Der alte Käpt’n lässt sich nicht beirren. „Das war kein Zufall. Es gibt jede Menge Wale im Stillen Ozean, müsst ihr wissen. Der Stille Ozean ist voller Wale. Wale lieben die Stille …“

Hein Blöd meldet sich. Er hat mal gehört, dass die Wale auch ergreifend singen können und dass sie dann immer solche schaurigen Gesänge machen. Die sollen sogar ziemlich laut sein.

Davon haben die Bärchen auch schon gehört. Der Gesang der Wale ist schließlich weltberühmt, besonders der Gesang der Buckelwale.

 

„Eben! Das ist es ja“, Opa Blaubär kann überhaupt nicht verstehen, dass man seine Erzählung anzweifeln kann. „Habt ihr euch jemals so einen Gesang der Wale angehört?“, fragt er.

Die Bärchen nicken. Hein Blöd auch.

„Na, also. Dann wisst ihr Bescheid. Dann könnt ihr euch vorstellen, wie sehr sich so ein Wal nach der Stille sehnt. Sobald so ein Gesang vorbei ist, sobald die Wale, die sich das anhören mussten, den schier endlosen Singsang überstanden haben, zischen sie so schnell sie können ab in den Stillen Ozean. Da haben sie endlich wieder ihre Ruhe. Da darf nicht gesungen werden. Deshalb heißt er ja auch Stiller Ozean und deshalb ist er der Ozean besonders beliebt bei den Walen. Da waren gerade wieder jede Menge da. Da musste ich nur einen herbeiwinken.

Die Bärchen lassen das ausnahmsweise durchgehen, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Richtig überzeugt wirken sie allerdings nicht.

 

 

 

 

Na, gut. Opa erzählt weiter: „Ich habe also einen Wal herbeigewinkt und habe ihn gebeten, dass er uns das letzte Stückchen bis zur Weihnachtsinsel abschleppt. Dafür habe ich ihm eine doppelte Flasche Lebertran versprochen. Mit Schuss. Als Belohnung …“

 

Jetzt reicht es aber. Das lassen sich die Bärchen nicht bieten.

„Wo hattest du denn plötzlich die doppelte Flasche Lebertran her?, will das rote Bärchen wissen. „Hä?“

„Das würde mich auch sehr stark interessieren“, sagt das gelbe.

„Eben hast du noch gesagt, ihr hättet nichts mehr zu knabbern gehabt – und nichts zu trinken“, sagt das grüne Bärchen. „Genau. Das hast du selber gesagt. Wo willst du dann plötzlich die doppelte Flasche Lebertran hergenommen haben?“

 

„Naja“, sagt Opa und wirkt etwas kleinlaut, „ich hatte natürlich keinen Lebertran dabei, wie ich schon sagte …“

„Das heißt …“, fängt das rote Bärchen an.

„ … du hast den Wal …“, sagt das gelbe.

„ … reingelegt! Du hast ihn betrogen! Alter Lügenbär!“, schimpft das grüne.

Alle motzen und schimpfen gleichzeitig: „Opa Das ist nicht fair! Unfair, unfair, Lügenbär!“

„Nun ja“, muss Opa zugeben, „mir blieb ja nichts anderes übrig, nich‘?“

„Unfair, unfair, Lügenbär!“, rufen die Bärchen unbeirrt im Chor. Auch Hein Blöd stimmt mit in den Schlachtruf ein: Unfair, unfair, Lügenbär!“

 

Opa winkt ab.

„Ganz so schlimm war es nun wieder auch nicht. In Seefahrerkreisen nennt man so was ein Wal-Versprechen. Da muss man sich nicht unbedingt dran halten. Es war ja auch für einen guten Zweck. Auf hoher See kann man sich das ausnahmsweise leisten. An Land wird das regelmäßig gemacht.“

Da sind die Bärchen still.

Opa nickt zufrieden: „So kamen wir doch noch rechtzeitig zur Weihnachtsinsel, die Elche erholten sich erstaunlich schnell und konnten helfen, die Geschenke auszutragen, die dann ja auch alle pünktlich ausgeliefert wurden. Alles wurde gut. Nur den netten Wal musste ich enttäuschen. Leider. Tja, so war das. Und nun wird aufgeräumt, los!“

 

 

 

 

„Wir denken gar nicht dran“, verkündet das rote Bärchen.

„Was?!“ Opa Blaubär guckt verdattert wie eine Flunder, die zum ersten Mal ein U-Boot sieht. „Aber das war doch so abgemacht: erst ne Geschichte, dann wird aufgeräumt. Das war abgemacht. Das habt ihr versprochen.“

„Ja, weißte, Opa“, erklärt das grüne Bärchen, „in Seefahrerkreisen nennt man so was ein Wal-Versprechen. Da muss man sich nicht unbedingt dran halten.“

„Außerdem“, sagt das gelbe Bärchen, „war die Geschichte von vorne bis hinten erstunken und erlogen.“

 

Opa Blaubär kann es nicht fassen: „Wie bitte?! Meine Geschichten sollen gelogen sein?!“

„Eine Weihnachtsinsel, zu der man nicht hinsegeln kann, weil da absolute Windstille herrscht, also das“, sagt das rote Bärchen, „das kannste deinem Frisör erzählen.“

„Und diese Sache mit den Elchen …“, das grüne Bärchen schüttelt heftig den Kopf.

„Welchen Elchen?“, fragt Hein Blöd.

Die Bärchen erinnern Hein daran, dass Opa gerade die Geschichte erzählt hätte, wie mal eine ganze Fuhre Elche zur Weihnachtsinsel gebracht hat.

„Ah ja, ich erinnere mich“, Hein Blöd überlegt noch ein wenig. „Aber Käpt’n. Das war nicht richtig so. Da stimmte was nicht mit den Viechern. Die Elche waren nämlich selber welche.“

Opa Blaubär sagt nichts mehr.

 

„Stellt euch vor!“ Das rote Bärchen kichert. „Stellt euch vor, es klingelt plötzlich, und draußen steht tatsächlich ein Elch und bringt Weihnachtsgeschenke, so wie uns der Alte das erzählt hat. Das passiert nie und nimmer …“

Alle lachen – außer Opa Blaubär  und reden wieder wild durcheinander.

„So ein Quatsch aber auch!“

„Das ist völlig unmöglich!“

„Wieder mal typisch für Opis Seemannsgarn.“

„Alles Lüge.“

„Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.“

 

 

 

 

Klingel-lingel-ling.

Oha! Es klingelt. Na so was!

Opa erhebt sich mühsam, schlurft zur Tür und macht auf. Draußen vor der Tür steht ein Elch. An seinem Geweih baumeln Pakete, die schön eingewickelt sind mit kleinen Schleifchen dran.

„Immer rein in die gute Stube!“, ruft der Opa.

Die Bärchen staunen.

Hein Blöd auch.

 

Der Käpt’n strahlt wie ein Honigkuchenpferd: „Da seht ihr es selber, mit eigenen Augen, ihr ungläubigen Landratten! Bitte schön: der Weihnachtselch! Er kommt auch zu uns. Das gibt noch ne richtig schöne Bescherung. Nun kann es Weihnachten werden. Übrigens ist der Elch ein guter Bekannter von mir … lange nicht mehr gesehen … Na, Alter?“

 

Opa nimmt dem Elch die Geschenke ab und legt sie auf den Tisch. Es sieht verheißungsvoll aus. Das Paket für das kleine rote Bärchen ist in rotes Papier eingewickelt, das Paket für das kleine grüne Bärchen in grünes Papier, und für das kleine gelbe Bärchen gibt es ein gelbes Paket. Das Geschenk für Hein Blöd sieht so aus, als wäre es ein eingepackter Rettungsring. Aber wer weiß das schon so genau. Weihnachten ist die Zeit der kleinen Geheimnisse und der Überraschungen.

 

„Das wird noch nicht ausgepackt!“, bestimmt Opa Blaubär. „Das wird alles unter den Tannenbaum gelegt und wird erst ausgewickelt, wenn ihr vorher ordentlich aufgeräumt habt, und zwar ohne zu maulen, jawohl!“

 

Opa Blaubär verabschiedet sich noch vom Elch, der hätte sicher noch viel zu tun, vielleicht würden sie sich nächstes Jahr wiedersehen.

„Bis dann, tschüs!“

 

Eh der Elche sich wieder trollen kann, kommen die drei Bärchen angewetzt, und jedes Bärchen reicht dem Elch eine Scheibe Knäckebrot, die sie schnell aus der Kajüte geholt haben – als kleine Stärkung für unterwegs. Außerdem gehört es sich so, dass man die Postboten und Lieferanten belohnt.

Der Elch bedankt sich freundlich, wackelt ein bisschen mit dem Geweih und nuschelt irgendwas von „Taxi Mücke, Knä-cke-brö-de-nen, Taxi Mücke!“ – oder so ähnlich. Doch das können die Bärchen nicht verstehen. Nicht so schlimm. Mücken gibt es zum Glück in dieser Jahreszeit sowieso nicht.

Aber Weihnachten ist doch immer wieder für eine kleine Überraschung gut und der alte Opa kann wirklich erstaunliche Geschichten erzählen. Geschichten, die nicht unbedingt gelogen sind – und schon ist der Weihnachts-Elch wieder weitergezogen.

 

 

 

 

 

 

100 Jahre Käpt’n Blaubär

 

 

In diesem Jahr hatten wir ein besonderes Jubiläum. Vor 30 Jahren starteten die „Seemannsgarn“-Geschichten mit Käpt’n Blaubär in der ‚Sendung mit der Maus‘. Ich selber bin in diesem Jahr 70 geworden. 30 und 70 sind zusammen 100.

 

 

Mit Büchern wie zu Hause

 

Die Feier zu meinem siebzigsten Geburtstag ist ausgefallen, auch die Jubiläums-Tournee, die ich mit dem Käpt’n, mit Hein Blöd und den drei kleinen Bärchen unternehmen wollte. Schade. Mit der Mannschaft hatte ich in den letzten Jahren unzählige Schulen und Bibliotheken besucht und mich dabei manchmal wie zu Hause gefühlt.

 

Dabei muss man wissen, dass ich kurz nach dem Krieg in eine Zwergschule gehen musste – es ging nicht anders –, mein Vater war zugleich mein Lehrer, das Schulhaus war zugleich unser Wohnhaus und der Klassenraum war zugleich die einzige Bibliothek weit und breit. So kam schon früh alles zusammen.

 

 

Drehbücher drehen bis man schwindelig wird

 

Ich hatte schnell den Dreh raus, wie man Lügengeschichten schreibt und habe gleich eine Menge Drehbücher für das Fernsehen geschrieben. Das hat mir sogar richtig Spaß gemacht, aus Herzenslust zu lügen und mich so dumm anzustellen, wie es nur Hein Blöd darf und es die Polizei ansonsten nicht erlaubt.

 

Die Drehbücher, die ich für die ‚Sendung mit der Maus‘ geschrieben habe, habe ich dann aber doch lieber so lange zurückgedreht, bis am Ende wieder richtige Bücher daraus geworden sind. Bücher mag ich nämlich lieber als Fernsehgeräte. Deshalb wollte ich auch unbedingt mit den Büchern auf Lesereise gehen.

 

 

Was ist das Beste, das es gibt?

 

Bücher habe ich immer im Gepäck. Ich habe auch in der Wohnung einige Bücher rumliegen und ich habe einen Mantel mit extra großen Taschen, in die gleich mehrere Taschenbücher passen. Ich lese gerne. Ich habe den Kindern erzählt, dass Lesen sowieso das Beste ist, was es gibt. Weil es etwas ist, das immer besser wird, je mehr man davon macht.

 

Das ist nicht bei allen Tätigkeiten so. Manche hängen einem nach gewisser Zeit zum Hals heraus. Lesen nicht. Ich habe gelegentlich ein bisschen übertrieben und behauptet, dass ich alles ausprobiert hätte, ich wäre schon Großwildjäger gewesen, Feinschmecker, Weltenbummler, Liebhaber, Millionär, Musikvirtuose, Extremsportler, Pirat und Zauberkünstler – und ich hätte rückblickend festgestellt, dass Lesen das Beste ist, was man machen kann.

 

Lesen ist etwas, von dem man nie genug kriegen kann, dass einem nie zum Hals heraushängt. Also: Ich habe ein bisschen Werbung gemacht für Bücher. Die Lehrer nannten das „Leseförderung“. Manche sprachen von „Lüge“.

 

 

Fernsehen und Käpt’n Blaubär – das passt gut zusammen

 

Aus der Lesereise wurde nichts. Es kam bekanntlich was dazwischen. Ich wollte keine Lesungen machen, bei der die Kinder Masken tragen müssen und ich nicht sehen kann, ob sie gerade lächeln oder doch eher eine Schnute ziehen. Eigentlich mache ich die Lesungen sowieso nur deswegen. Um mir das anzugucken. Das muss man einfach gesehen haben. Das fiel also aus.

 

Über Zoom wollte ich auch nichts vorlesen. Dann kann man auch gleich fernsehen. Die Lügengeschichten vom Käpt’n sind im Fernsehen eigentlich ganz gut aufgehoben. Da haben sie ihre ideale Form gefunden. Mir hat mal ein Kind erklärt, warum diese Geschichten im Fernsehen viel besser ankommen als in Büchern. Es ist nämlich so, hat mir das Kind erklärt, Lesen muss man erst mühsam lernen. Das ist nicht so einfach. Fernsehen dagegen sei eine „natürliche Fähigkeit“. Da habe ich lange drüber nachdenken müssen.

 

 

Mehr als 13einhalb Leben

 

Wie fing alles an? In einem Interview mit dem WDR habe ich von den Anfängen erzählt und Dennis Braun hat verraten, wie es in den folgenden 30 Jahren weitergegangen ist. Zuerst hatte es Gute-Nacht-Geschichten für das ‚Sandmännchen‘ von Walter Moers gegeben, der später auch das Buch von den 13einhalb Leben des Käpt’n Blaubär geschrieben hat. 13einhalb ist noch zu wenig. Es gab mehr.

 

Für die ‚Sendung mit der Maus‘ sollten 104 Folgen ‚Seemannsgarn‘ geschrieben werden (104 kann man gut durch 52 teilen, das ergibt dann 2. Alle 2 Jahren wurden die Episoden wiederholt, weil es bekanntlich alle 2 Jahre neue Kinder gibt …)

 

Also haben wir uns Geschichten ausgedacht: Walter Moers, Rolf Silber (nicht verwandt mit John Long Silver, was viele denken, weil „Silver“ bekanntlich Silber heißt …) und ich. Wolfgang Völz, dem ich auf der Achse einen kleinen Nachruf geschrieben habe, hat dem Bären seine wunderbare Stimme geliehen, er hat ihm den richtigen Brummton verpasst – und dann ging die Reise los, die Mannshaft ging auf große Fahrt.

 

 

Dann ging es rund

 

Die Reise ging durch die Schlafzimmer der Kinder, die nicht einschlafen wollen und durch die Einkaufsläden in den Fußgängerzonen, wenn da ein Kunde nicht so genau wusste, was er kaufen sollte. Nun war alles da. Der Blaubär trat in allen möglichen Verwandlungen auf: Es gab Spiele, Puppen, Fußmatten, Schlauchboote, Tapeten, Eistorten, Briefmarken und … und … und … und zum Beispiel Wärmflaschen mit Käpt’n Blaubär und mit Hein Blöd (die von Hein Blöd war zeitweise die beliebteste Wärmflasche Deutschlands).

 

Doch das Beste gab es immer umsonst. Kinder malten Bilder – einfach so. Und viele Väter und Mütter machten die Erfahrung, dass sie überraschend gut lügen konnten und dachten sich eigene Geschichten aus, mit denen sie die Kleinen in den Schlaf tricksen konnten. Das Blaubär-Geschichten-Erzählen wurde ein neuer Volkssport, bei dem man gar nicht besonders viel trainieren musste. Der Blaubär gehört inzwischen zum Kulturerbe. Hein Blöd noch mehr.

 

Ich habe es selber erlebt, dass mir Kinder eine Geschichte erzählt haben und ich irgendwann gemerkt habe, dass sie mir bekannt vorkommt und ich die mir vor langer Zeit ausgedacht hatte. So also ging es rund.

 

 

 

 

 

 

 

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Wie heißen die drei kleinen Bärchen?

Erwischt. Das ist die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird. Das wollen die Kinder natürlich wissen. Und das ist auch gut so. Sie haben Recht. Sie kennen die Farben: ein Bärchen ist grün, eins ist gelb, eins pink. Aber wie heißen die Bärchen? Hm!

Das weiß ich auch nicht. An der Stelle haben wir einen Fehler gemacht und gedacht, es reicht, wenn die Bärchen Farben haben. Aber nicht nur ein Kind, auch ein Bär will einen Namen haben.

Das grüne Bärchen war übrigens schon mal verschwunden. Ein Kind hatte das Bärchen so gerne, dass es es einfach nicht mit ansehen konnte, wie die anderen Kinder auch alle zu den Bärchen drängelten. Da hat das Kind schnell das grüne Bärchen versteckt. Zur Sicherheit. Damit es wenigstens ein Bärchen für sich alleine haben konnte. Wenigstens ein Weilchen. Es hat das grüne Bärchen dann aber wieder frei gegeben. Alle drei Bärchen sind wieder wohlauf. Auch ohne Namen.

 

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Wie viele Geschichten gibt es?

Immerhin. Das weiß ich: 104. 104 kann man gut durch 52 teilen. Das ergibt 2.

52 Wochenenden hat ein Jahr. Wenn an jedem Wochenende eine Blaubär-Geschichte im Fernsehen kommt, dann reichen 104 Geschichten für 2 Jahre. Nach 2 Jahren werden die Geschichten wiederholt. Denn in Deutschland gibt es alle zwei Jahre neue Kinder. Die kennen die alten Geschichten noch nicht.

In Wirklichkeit gibt es sogar noch mehr als 104 Geschichten. Aber wie viele genau – das weiß ich auch nicht. Ich war nur am Anfang dabei. Nachher sind noch viele Geschichten dazugekommen, die ich selber nicht alle kenne.

 

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Hast du die alle ganz alleine ausgedacht?

Keinesfalls. Das kann auch einer alleine gar nicht schaffen. Wir heißt es auf dem Land? So blöd kann einer alleine gar nicht sein. So viel Seemannsgarn kann einer alleine nicht spinnen. Das kann nicht einmal ein weit gereister Seebär, der schon alle sieben Weltmeere befahren hat.

Die 104 Geschichten haben wir zu dritt geschrieben. Dabei haben uns noch Leute geholfen, die haben uns Lügen erzählt und uns Ideen zugeflüstert. Wir drei – das waren: Walter Moers, Rolf Silber und ich. Jeder von uns hat etwa ein Drittel von den 104 Geschichten geschrieben.

Rolf Silber ist übrigens über zwei Ecken mit dem Piraten John Long Silver verwandt. „Silver“ ist englisch und heißt bekanntlich „Silber“.

 

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Wer hat den Blaubär eigentlich erfunden?

Walter Moers, der war’s. Der hat zuerst Gutenacht-Geschichten für die Sendung ‚Sandmännchen’ geschrieben. Da liegen die drei Bärchen schon im Bett – man sieht nur ihre Köpfe – und wollen noch eine „knallgute Gutenachtgeschichte“ hören, anderenfalls drohen sie mit Rabatz. So hat alles angefangen. Damals ging es noch ohne Hein Blöd.

Dann wollte die ‚Sendung mit der Maus’ 104 Geschichten in der Art. Da hat dann Walter Moers noch zwei Kumpel mit an Bord geholt. Dann ging es los. Also: Walter Moers war’s. Genau. Das ist auch der, der sich das ‚kleine Arschloch’ ausgedacht und der den Kinofilm von Käpt’n Blaubär gemacht und das Buch von den dreizehneinhalb Leben des Käpt’n Blaubär geschrieben hat.

 

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Wie viele Leute machen bei dem Seemannsgarn mit?

Viele. Ungefähr 30 Leute müssen mitwirken, damit es nachher eine Geschichte für die ‚Sendung mit der Maus’ gibt: die Puppenspieler, die Sprecher, die Zeichner … Etwa 10 Zeichner hatten schon mal angefangen, allerlei Schiffe und Inseln, die immer gut zu irgendeiner Geschichte von Käpt’n Blaubär passen, zu zeichnen, ehe wir Autoren die Geschichten fertig ausgedacht hatten. Und dann noch die Musik. Da kommt einiges zusammen.

Bei alten Filmen, zum Beispiel von Charlie Chaplin, gab es noch keinen langen Abspann, in dem steht, wer alles mitgemischt hat. Charlie Chaplin hat fast alles selber gemacht. Er hat selber den Text geschrieben, hat selber die Hauptrolle gespielt und hat selber die Musik komponiert. Er hat sozusagen vor und hinter der Kamera gleichzeitig gestanden. Heute kann das keiner mehr.

Aber viele stellen sich das immer noch so vor. Die denken, wenn einer irgendwas bei einer Fernsehfolge von Käpt’n Blaubär gemacht hat, dann hat er auch gleich ALLES gemacht. Ich war es jedenfalls nicht. Ich kann auch nicht so gut zeichnen. Ich habe es aber mal probiert. Ich kann viele Sachen nicht. Ich kann eigentlich nur gut lügen.

 

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Wie alt ist Käpt’n Blaubär?

Hm? Schwere Frage. Bei Piraten, Asiaten und bei manchen Frauen kann man das nicht so genau sagen. So sagt man jedenfalls in Seefahrerkreisen. Die sind irgendwie zeitlos. Die ersten Folgen von Käpt’n Blaubär gab es schon 1991 oder sogar schon 1990. Ich erinnere mich noch dunkel, dass es damals eine Geschichte gab, in der Käpt’n Blaubär seinen sechzigsten Geburtstag feiert und dabei Oldies singt, zum Beispiel Lieder von den Beatles. Dann ist er also gar nicht sooo alt. Und die Oldies sind immer noch schön.

 

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Warum ist der Bär blau?

Normalerweise sind Bären nicht blau. Das wissen wir auch. Manche denken, dass er „Blaubär“ heißt, weil er so aussieht, wie er heißt (er ist ein Bär und er ist blau) und heißt „Blaubär“, weil er irgendwann einmal zu viele Blaubeeren gegessen hat. Aber das stimmt nicht. Davon wird man nicht blau. Ich weiß es genau. Ich esse nämlich selber immer so viele Blaubeeren, wie ich kriegen kann. So viel wie möglich. Davon wird man nicht blau. Es gibt einen ganz anderen Grund.

Ursprünglich sollte es „Käpt’n Braunbär“ heißen. Aber heutzutage ist es sehr teuer, eine Fernsehserie zu machen, so dass man solche Filme nur machen kann, wenn man sie in möglichst viele Länder verkauft. Man muss sie sogar schon verkaufen, ehe man sie überhaupt hergestellt hat. Deshalb spricht man vorher mit allen möglichen Interessenten. Die Japaner waren sehr interessiert und haben versichert, dass sie Filme, wenn sie fertig sind, kaufen wollen. Damit war die Finanzierung gesichert.

Wir waren dann ziemlich verwirrt, als die Japaner ständig anriefen und immer wiederholten: „Wollen kaufen: Käpt’n Blaubäll“. Da haben wir gedacht, dass sie die Filme vielleicht nur kaufen wollen, wenn der Bär blau ist. Na gut. Dann eben so. So ist der Bär blau geworden.

Die Japaner sind übrigens später wieder abgesprungen und haben Käpt’n Blaubär nicht in Japan im Fernsehen gezeigt. Schade. Aber es ging auch so.

 

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Wer spricht den Bären?

Die Stimme kommt einem irgendwie bekannt vor. Richtig. Es ist die Stimme von Wolfgang Völz. Der hat auch gesagt „Nichts ist unmöglich“ und „Käpt’n Iglu“. Der kann das. Das hat man immer noch im Ohr. Er ist ein berühmter Sprecher, der schon in Fernseh-Seiren wie ‚Graf Yoster gibt sich die Ehre‘ und in ‚Raumpatrouille‘ mitgemacht hat. Außerdem in vielen Filmen wie ‚Pippi im Taka-Tuka-Land‘, ‚Urmel aus dem Eis‘, ‚Pumuckl und der blaue Klabauter‘ und in ‚Emil und die Detektive‘.

 

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Wer spricht Hein Blöd?

Das ist ein Schauspieler, der Edgar Hoppe heißt. Der macht das gut. Aber es ist auch nicht so schwer. In Hamburg können viele so sprechen. Man muss einfach die Vokale verlängern (die Vokaaale verlääängern). Im Einwohnermeldeamt Eimsbüttel wurde das noch in den siebziger Jahren überprüft, wenn einer unbedingt ein richtiger Hamburger sein wollte. Inzwischen lassen sie das.

Manchmal werde ich bei Lesungen in Bayern, Franken oder im Schwabenland angesprochen und die Kinder fragen mich dann, ob ich nicht noch ein bisschen mehr in dieser „Witzsprache“ reden könnte. Ich weiß gar nicht, was die meinen.

 

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Wer spricht die kleinen Bärchen?

Das machen Kinder, die ungefähr zehn Jahre alt sind. Ein Mädchen (das pinkfarbene Bärchen ist ein Mädchen) und zwei Jungen. Einer von den Jungs musste wieder ausgetauscht werden, weil er in den Stimmbruch kam. Das war dann schon ein Problem. Aber es gibt noch ein Problem: Heutzutage haben Kinder, die ungefähr zehn Jahre alt sind, keine Zeit mehr und schaffen es kaum noch, sich auf einen gemeinsamen Termin zu einigen. Die Kinder heutzutage haben einen Terminkalender wie Stars. Sie haben es aber trotzdem geschafft.

 

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 Ist Hein Blöd wirklich so blöd?

Tja. Das ist die Frage. Hein Blöd ist sehr beliebt. Er ist viel beliebter als der Käpt’n. Die Kinder mögen ihn viel lieber. Es gibt Hein Blöd auch als Wärmflasche. Es ist die beliebteste Wärmflasche Deutschlands, sie ist noch beliebter als die Tiger-Enten-Wärmflasche.

Hein Blöd ist außerdem sehr hilfsbereit. Und er hat immer gute Laune, auch wenn sich alle über ihn lustig machen. Nun mal ganz im Ernst: Wenn nun einer so beliebt ist wie Hein Blöd und wenn er stets so gut gelaunt ist, dann kann er eigentlich nicht wirklich blöd sein – oder? Irgendwas macht Hein Blöd richtig.

Hein Blöd ist Happy Jack. Vielleicht kennt zufällig einer das steinalte Lied von den Who? Da heißt es: „They droped things on his head and lied, lied, lied. But they couldn’t stop Jack from being happy.“ So ist es auch bei Hein Blöd. Genauso. Bei all den Lügen bleibt er immer wohlauf.

 

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 Welche Farbe haben die Eltern?

Eine knifflige Frage. Der Opa (Käpt’n Blaubär heißt auch „Opa“ Blaubär) ist blau – wie man sieht. Die Oma, von der man allerdings nichts weiß, ist vermutlich auch blau. Oder sie war mal blau und ist dann später ergraut.

Die Enkelkinder (die drei kleinen Bärchen sind ja die Enkelkinder) haben bekanntlich Farben wie Gummibärchen oder wie Filzstifte: gelb, grün und pink. Da stellt sich schon die Frage: welche Farben haben die Eltern?

Durchsichtig? Oder sind sie bunt wie ein Regenbogen? Was können das für Farben sein? Was können das überhaupt für Eltern sein? Gibt es sie überhaupt? Hat man jemals von ihnen gehört?

Nein. Eben nicht. Die Eltern werden auch nicht erwähnt. Es gibt sie nicht – es kann sie gar nicht geben. Sie werden auch nicht vermisst. Das ist ein Erfolgsgeheimnis der Serie: Es ist eine Familie ohne Papa und Mama.

Nicht dass die Kinder was gegen ihren Vater oder gegen ihr Mutter hätten, aber wenn sie nicht da sind, dann ist das auch mal ganz schön. Es gibt sie ja doch. Sowieso. Immer. Jedes Kind hat einen Vater und eine Mutter.

Aber wenn auf einem geheimen Ort wie dem alten Schiff von Käpt’n Blaubär, das auf einer abgelegenen Klippe liegt, nur der Opa da ist und Hein Blöd, die Eltern von den drei kleinen Bärchen aber nicht, dann dürfen die Bärchen viel frecher sein. Das sind sie auch. Sie sind auch schlauer. Viel schlauer als Hein Blöd sowieso. Aber manchmal sind sie sogar schlauer als ihr Opa. Nicht nur manchmal. Fast immer.

 

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Ist Käpt’n Blaubär ein Lügner?

Man soll nicht lügen. Das wissen die Kinder auch. Aber der Käpt’n ist eigentlich auch kein Lügner. Er ist kein Betrüger. Er ist kein Politiker. Kein Gebrauchtwagenhändler. Er will die Bärchen nicht reinlegen. Im Gegenteil: Er meint es gut mit den drei kleinen Bärchen.

Er möchte ihnen die Langeweile vertreiben, möchte sie ein bisschen unterhalten und ihnen erzählen, wie es in der Welt zugeht. Aber stimmt das denn? Ist es denn so in der großen, weiten Welt, wie der Käpt’n sagt? Machen seine Geschichten nicht einen ganz falschen Eindruck?

Nein. Die Welt ist wirklich so, wie der Käpt’n sagt. Sie ist voller Wunder. Das wissen die Kinder auch. Die Erwachsenen haben das oft vergessen. Sie wundern sich nicht mehr, sie sehen den Paradiesstaub nicht, der über den Dingen liegt. Sie merken nicht, wie verzaubert in Wirklichkeit alles ist.

Der Käpt’n Blaubär erinnert uns daran. Seine Geschichte wollen uns immer wieder sagen, dass die Welt unerklärlich und wunderbar ist.

Und das ist wahr. 

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Wie ist Käpt’n Blaubär überhaupt ins Fernsehen gekommen?

 

 

 

Wegen Hein Blöd. Nur wegen Hein Blöd. Ohne ihn wäre so manches Abenteuer sowieso nicht möglich gewesen. Also, das kam so: Der Käpt’n und Hein Blöd sollten ein äußerst kostbares Haarwuchsmittel nach Rababel-Palavien bringen.

Das war nicht so einfach. Denn dieses Haarwuchsmittel durfte nicht zu lange in der Sonne stehen. Wenn dieses Haarwuchsmittel zuviel Sonne abkriegte, dann verlor es seine Wirkung. Ja, schlimmer noch: Die Wirkung kehrte sich um. Normalerweise wachsen von diesem Mittel die Haare wieder nach und werden länger und länger. Aber wenn das Mittel zu lange in der Sonne steht, werden die Haare, die noch da sind immer kürzer und schrumpfen ein. Da mussten sie also gut aufpassen, dass ihr kostbares Haarwuchsmittel gut gekühlt unter Deck aufbewahrt war.

Doch auch die Insel Rababel-Palavien war nicht ungefährlich. Da lebte ein merkwürdiges Volk, über das man nicht viel wusste. Man wusste nur, daß man in Rababel-Palavien nicht mehr als zehn Worte sagen durfte. Sonst würde ein großes Unglück geschehen – was für ein Unglück wusste keiner. Also hat es der Käpt’n seinem Leichtmatrosen genau erklärt und hat ihm eingebläut, auf keinem Fall mehr als zehn Worte zu sagen.

 

So fuhren sie los – das Haarwuchsmittel gut gekühlt unter Deck – schnurstracks in Richtung Rababel-Palavien. Doch plötzlich, als Hein Blöd gerade Wache hatte, wurde er ganz zappelig und sagte:

„Käpt’n (1),

ich (2)

will (3)

ja (4)

nichts (5)

sagen (6),

aber (7)

ich (8)

sehe (9)

was (10) …“

 

„Ja, was denn?“ fragte Käpt’n Blaubär, aber Hein Blöd schwieg.

 

Da war es auch schon passiert.

 

Es gab einen fürchterlichen Rumms. Das schöne Schiff lief auf ein Riff. Hein Blöd hatte es kommen sehen. Er wollte den Käpt’n warnen, doch er wollte schon für den Aufenthalt auf Rababel-Palavien üben und nicht zu viel reden. So passierte das Unglück. Das Schiff sank.

Der Käpt’n und Hein Blöd konnten sich gerade noch in ein Rettungsboot retten und konnten sogar noch ein Glas von der kostbaren Ladung mitnehmen. Wenigstens eins. So ruderten sie weiter unter der sengenden Sonne der Südsee – bis nach Rababel-Palavien.

 

Doch was war das?

 

Als sie Rababel-Palavien erreichten, war niemand da. Die Insel war verlassen. Die Bewohnen waren geflüchtet. Nur ein altes Fernsehgerät stand da. Sonst nichts. Alles hatten die Bewohner von Rababel-Palavien mitgenommen, sogar die Steckdose. Wahrscheinlich hatte denen irgendein ahnungsloser Tourist so ein Gerät mitgebracht und eingeschaltet – und bei der ersten Talkshow waren alle Hals über Kopf geflüchtet.

Hein Blöd war völlig aus dem Häuschen, als er das Fernsehgerät sah. Er war gar nicht mehr zu bremsen. Er wollte schon immer gerne ins Fernsehen. Also machte er den alten Kasten auf und holte alles raus, was da an elektrischen Teilen drin war.

Aber deswegen kam Hein Blöd noch lange nicht ins Fernsehen rein. Denn der Fernsehapparat war ungefähr sooo groß, und Hein Blöd ungefähr soooooo groß. Das passte einfach nicht.

Da hat Hein Blöd kurzerhand die Flasche mit dem Haarwuchsmittel zur Hälfte ausgetrunken. Das hatte ja nun lange in der Sonne gelegen und die Wirkung hatte sich umgekehrt. Nun schrumpfte Hein Blöd. Er wurde so klein, daß er in das Fernsehgerät reinpasste.

Das konnte der Käpt’n nicht dulden. Hein Blöd im Fernsehen. Ganz alleine. Da musste er sofort was unternehmen. Also trank er schnell den Rest von dem Haarwuchsmittel, schrumpfte auch, krabbelte fix ins Fernsehen rein, um aufzupassen, dass Hein Blöd da nicht so viel Unfug macht.

Tja, so ist er eben ins Fernsehen gekommen.

 

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Lügen in Zeiten des Farbfernsehens

 

„Das Wahre ist das Ganze.“ 

G.W.F. Hegel in der Vorrede zur ‚Phänomenologie des Geistes’

„ALLES LÜGE“

Beliebter Aufkleber, der den Werbespruch „ALLES FRISCH“ parodierte (und inzwischen auch wieder aus der Mode gekommen ist).

 

 

 

Der Blaubär lügt. Sowieso. Das wissen die Kinder natürlich. Immer, wenn ich sage: „Aber, bitteschön, er lügt doch nicht immer“, gibt es mit Sicherheit ein Kind, das sofort dazwischenruft: „Aber immer öfter!“

Sie kennen eben ihren Bären, der ihnen einen selbigen aufbinden will, – aus dem Fernsehen. Und daher kennen sie auch die Werbesprüche: „Clausthaler – alles, was ein Bier braucht.“

Einmal wollte ich anfangen, eine Lügengeschichte zu erzählen, als mich ein Kind, das vielleicht drei Jahre alt war, gleich wieder unterbrach: „Den kenn ich, den Blaubär, der kommt jeden Sonntag zu uns …“ – und noch während das arme Kind redete, konnte man die Enttäuschung (oder vielleicht auch nur eine Verwunderung) in seinem Gesicht ablesen, weil nämlich die anderen Kinder sofort betonten, dass sie den Blaubär auch alle kannten, dass er auch zu ihnen ins Wohnzimmer kam. Da musste, wie es aussah, irgendwas faul sein an der Sache.

In dem Buch ‚Am Fuß der blauen Berge’, in dem von der „Flimmerkiste in den 60er Jahren“ erzählt wird, gestehen zwei „bekennende Allesseher“, wie sie sich freiwillig nennen: „In der Frühphase des Fernsehens war es für uns Kinder eine ganz wichtige Erkenntnis festzustellen, dass aus jedem Fernseher das gleiche rauskam! Wenn man sich traf, hieß es: War bei euch gestern auch ‚Fury’ drin? Echt verrückt …“ Und der zweite Bekenner ergänzt: „Ja, weil das am Anfang so schwer vorstellbar war. Eine Tante von mir hat sich sonntags auch immer besonders fein angezogen zur Tagesschau, zum Köpcke. Weil die dachte, der sieht sie! Ist wirklich wahr.“

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Wir glauben es ja auch, halten das aber eher für eine Kuriosität am Rande, für die sich vielleicht Neil Postman begeistern könnte, oder Günther Anders, der die zunehmende „Phantomisierung“ beschreibt und dabei von Omas erzählt, die echte Babywäsche häkeln für den – natürlich rein fiktiven – Nachwuchs aus Familienserien.

Es soll eben Menschen geben, die mit ihrem trägen Herzen bei der rasanten Entwicklung des modernen Lebens nicht immer Schritt halten können und offenbar auch die Packungsbeilage zu Risiken und Nebenwirkungen nicht durchgelesen haben. Dabei war das noch die gute, alte Flimmerkiste in Schwarzweiß, bei der ein Unterschied zur Realität eigentlich evident sein sollte.

Dennoch. Ich kann mich gut erinnern, wie geradezu unerträglich spannend ich immer die „Abenteuer unter Wasser“ fand. Manchmal konnte ich die diese Spannung nur noch aushalten, indem ich versuchte, sozusagen durch die Bilder hindurch auf den Herstellungsprozess selber zu blicken, mir also beschwörend einredete, dass da noch jemand dabei sein musste, der das Geschehen gerade filmte.

Der würde doch nicht tatenlos zusehen, wie jemand unter Wasser eingeklemmt ist und keine Luft mehr kriegt, wenn er mit seiner Unter-Wasser-Kamera unmittelbar daneben steht und ihn retten könnte. Das war echt spannend. Diese Filme waren auch in Schwarzweiß. Und spielten obendrein unter Wasser.

Wie sollte das erst in Farbe werden? Denn mit dem Fortschritt der Technik wird unsere ach-so-vertraute Welt, wie jedenfalls viele glauben, immer verrückter, und die Trennlinie zwischen Echt und Falsch immer dünner.

Bestes Beispiel aus den achtziger Jahren: Ronald Reagan, der, wie wir alle wissen, den amerikanischen Präsidenten gemimt hat und zugleich wirklich der Präsident war, was mir stets wie eine Art moderne Inszenierung des ‚Hauptmann von Köpenick’ vorkam. Oder was – bitteschön – halten wir vom Film ‚Forrest Gump’? Oder von der Firma Pro Imaging Labs, die speziell für geschiedene Paare einen DivorceX-Service anbietet, bei dem Fotoalben mit neuen Scannern so manipuliert werden, dass alte Gruppenfotos beliebig neu gemischt werden können?

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Aber ist die Vermischung von Fantasie und Realität – von echt und unecht – wirklich neu? Dieses merkwürdig prickelnde Gefühl, sich dabei einer verbotenen Grenze zu nähern, hatte ich – ehrlich gesagt – schon öfter. Ich hatte das bereits im Jahre 1977, als ich mit inzwischen hoffnungslos überholten technischen Möglichkeiten einen Super-8-Film nachvertonte, und ich kann mich auch noch an den milden Schrecken erinnern, als ich das erste Mal meine eigene Stimme von Tonband hörte.

In Wahrheit stehen die meisten von uns all diesen Errungenschaften weder besonders begeistert noch besonders skeptisch gegenüber, sondern einfach gleichgültig. Weil es alles gar nicht so neu ist.

Schon die Römer (falls das nicht auch wieder nur so ein Gerücht ist) hatten Spektakel, bei denen bei jeder Aufführung ein Schauspieler geopfert wurde, man musste halt jedes Mal einen neuen Sklaven in die Arena schicken, der da dann – live – einen nur gespielten und zugleich echten Tod sterben musste.

Und je mehr ich über das Lebensgefühl der barocken Welt lese, desto mehr habe ich den Eindruck, als hätten sich die Menschen damals mit ihren pompösen Opern, ihren Jagd- und Schäferspielen und den Inszenierungen eines aufwendigen, höfischen Lebens eine bewusste Künstlichkeit geschaffen, über deren „Firnis von Unwirklichkeit“, wie es Wolf von Niebelschütz nennt, sie sich durchaus bewusst waren. Ludwig der XIX. soll sogar eine Perücke mit Gucklöchern gehabt haben, durch die sein echtes Haar besser zur Geltung kam.

Und in einem Roman von George Simenon, der zum größten Teil in der Südsee spielt und ein existenzialistisches Gefühl der 30er Jahre beschreibt, steht ganz unauffällig der lapidare Satz: „Alles war wirklich und unwirklich zugleich“. Eben. Genauso stelle ich mir das auch vor. Nicht nur in der Südsee.

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Es ist also, wie ich vermute, kein spezielles Problem der Computerkids, deren Eltern mit Happenings groß geworden sind. Es ist keine Frage einer neuen technischen Errungenschaft. Es ist das Drama und das Glück eines jeden Kindes, ob nun begabt oder unbegabt, dass ein Spiel zugleich ernst ist.

Sehr schön hat das mal mein Bekannter Lasse gezeigt, der – vielleicht im Alter von acht Jahren – noch lange nach Aschermittwoch immer noch mit seinem Indianerkostüm rumgelaufen ist und damit sogar ins Bett gegangen ist, bis es seine Mutter nicht mehr mit ansehen konnte und schimpfte: „Jetzt zieh endlich diese albernen Klamotten aus, Fasching ist vorbei.“

Daraufhin hat Lasse sich in die Brust geworfen und seiner Mutter stolz erklärt: „Du weißt wohl nicht, mit wem du redest: Ich bin Winnetou!“

So ist es auch keine Überraschung, dass wir uns all den technischen Neuerungen gegenüber selber immer wieder wie Kinder verhalten. Die Weltraumfahrt hat uns alle zu Kindern gemacht, heißt es, doch auch ein einfaches Fax-Gerät erscheint so manchem Erwachsenen wie ein kleines Wunder; und ein großer Teil der Möglichkeiten auf CD-ROM ist natürlich auch bloß – ich gebe es offen zu – die reine Spielerei, für das Kind im Manne, oder für das Kind im Kinde.

Na und? Videos und Computerspiele sind längst nicht so gefährlich wie Ritterbücher. Da kann es nämlich passieren, dass man den Sinn für die Realitäten völlig verliert und Windmühlen mit Ungeheuern verwechselt.

Die Kinder haben heute nicht nur Bücher mit bunten Bildern (meine Tochter hat dazu gleich die einschlägigen Kategorien gebildet „langweilige Bücher“ = „ohne Bilder“ und „nicht-langweilige Bücher“ = „mit bunten Bildern“). Zusätzlich haben die jungen Konsumenten von heute einen Gameboy, ein Polly Pocket, ein Video, eine Kassette fürs Auto und eine Puppe, die womöglich sprechen kann – von einem Tamagochi ganz zu schweigen.

Da denkt ein Kulturkritiker natürlich sofort, dass es für die Kleinen schwer sein muss, noch zwischen Echt und Unecht zu unterscheiden. Hinzu kommt ja, dass viele dieser Bücher, ob nun langweilig oder nicht, der Fantasie der Kinder recht geben, etwa nach dem Schema: Ein Kind sieht ein Krokodil unter dem Bett, die Erwachsenen leugnen das natürlich, aber das Krokodil ist „wirklich da“ – es wird auch abgebildet. Die Erwachsenen sehen es nur nicht, weil sie eine eingeschränkte Wahrnehmung haben. Karlsson vom Dach gibt es auch „in Echt“, selbst wenn die Eltern das heftig abstreiten, man sieht ihn aber richtig fliegen, in Farbe, nicht etwa unter Wasser, sondern hoch in der Luft, ohne dass ein Faden erkennbar wäre.

Schwere Bedenken hatte ich bei einer großen Saurier-Ausstellung, bei der sich die Viecher nicht nur bewegten, sondern obendrein einen ziemlichen Lärm machten, der wohl irgendwie prähistorisch wirken sollte. Meine Tochter nahm es allerdings gelassen. Sie hatte gleich gemerkt, dass die Saurier nicht echt waren, sondern „nur mit Batterie“.

Die ‚Augsburger Puppenkiste’ dagegen kann viel aufregender sein, auch wenn die gar nicht erst versuchen, so zu tun, als wären die Puppen echt. Ein Faden ist immer im Bild und das Meer ist ganz offensichtlich eine Plastikfolie.

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Käpt’n Blaubär gibt es inzwischen auch als Video, als Kassette, als Kuscheltier, als Lampion, als Tütenkasper, als Comic, als Wärmflasche, als Schlauchboot, als Spardose, als Girlande, als Bettlaken, als Waschlappen, als Fingerpuppe, als Kolleg-Mappe, als T-Shirt, als Zelt, als Malbuch mit Buntstiften, als Luftmatratze, als Kalender, als Krawattennadel, als Puzzle, als Fensterbild, als Mountain Bike, als Handpuppe, als Kochbuch, als Schwimmflosse, als Faschingskostüm, als Fußabtreter, als Mini-Steckspiel, als Trinkbecher und als Spiel ‚Wahr oder gelogen?’

Und doch – oder gerade deshalb? – enttäuscht der Blaubär die Kinder, wenn sie ihn unvermutet als Puppe in der Post beim Weltspartag treffen oder im Schaufenster einer Buchhandlung. Vielleicht enttäuscht er sie nicht ganz so sehr wie die popelige Radkappe, die wir als Raumschiff ‚Orion’ kennen, aber womöglich so ähnlich: Der redet ja gar nicht und rollt auch die Augen nicht. So habe ich schon erlebt, dass mich Kinder nach einer aus meiner Sicht durchaus geglückten Vorstellung gefragt haben: „Wann fängt es denn an?“

Auch meine Tochter hat sich schon ihre Gedanken über den Charakter der Massenmedien gemacht, als sie nämlich mal die Gruppe Kunterbunt beobachtet hat, die nach dem Konzert Kassetten verkaufte: „Haben die jetzt auf jede Kassette neu draufgesungen“, hat sie gefragt, „oder haben die nur eine Kassette gemacht und die dann immer wieder überspielt?“

Diese Frage ließ sich wenigstens beantworten. Andere waren nicht so leicht zu erklären. Mein alter Mathematiklehrer hatte mal die Losung ausgegeben, dass jeder, der ein Telefon benutzt und nicht weiß, wie es funktioniert, ein moderner Idiot ist. Und als bekennender moderner Idiot muss ich zugeben, dass ich bei manchen Fragen einfach passen musste. Geht es bei den Kinderfragen ja auch gar nicht darum, technische Vorgänge erklärt zu kriegen, sondern vielmehr darum, so etwas wie Anteilnahme herzustellen, wenn meine Tochter etwa im Verkehrsfunk, der über die ARI-Funktion die Kinderkassette unterbricht, gehört hat, dass auf der A7 spielende Kinder auf der Fahrbahn sieht, und sie dann besorgt fragt: „Kennen wir die?“

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Da ist es dann gar nicht so leicht, zu erklären, dass diese Medien keineswegs so durchlässig und verfügbar sind, wie sie gerne tun, wenn sie doch, um noch mal Günther Anders zu bemühen, immer wieder „mit dem duzen anfangen“, und beispielsweise einen Brief vorlesen: „Hier schreibt uns Benjamin aus Bochum, der wissen will, wie die Löcher in den Käse kommen“: Meine Tochter hat auch eine Menge Fragen – warum kommen wir nicht mal dran? Hier spürt sie vermutlich eine ähnliche Enttäuschung (oder auch nur Verwunderung) wie dieses dreijährige Kind, das ich am Anfang erwähnt habe. Und was ist eigentlich – das möchte ich nämlich selber gerne wissen – inzwischen aus diesen Kindern geworden, die auf der A7 gespielt haben? Das sagt einem ja auch keiner.

Nein, das Fernsehen lässt die Kinder nicht wirklich Anteil nehmen. Sie leugnen ihren Charakter als Massenmedium. Sie wollen – und können – auch gar nicht so zugänglich sein, wie sie tun. Sie scheinen sich einig zu sein, dass man den Kindern in Wirklichkeit gar keinen Gefallen tut, wenn man ihnen allzu sehr entgegenkommt und sich womöglich kindgerecht gebärdet.

Im Fernsehen tut man das nicht. Da werden Familienprogramme gemacht, als wären die Familien noch intakt; und man geht sicherheitshalber davon aus, dass Kinder überfordert werden wollen. Als Autoren sollten wir sogar vorsätzlich Scherze in die Lügengeschichten reinschreiben, die Kinder nicht verstehen können. Wenn sie nämlich zu hundert Prozent alles verstehen, fühlen sie sich schon zu alt, dann ist das „Kinderkram“, dann wollen sie lieber – wenn auch nur scheinbar – teilhaben an der Welt der Großen, auch zu dem Preis, dass sie nicht alles verstehen.

Sollen die Kinder also getrost ein bisschen staunen. Gerade das macht ja das Glück und die Magie der Kinderwelt aus.

So beschreibt es jedenfalls Franz Hessel in seiner ‚Lektüre unter dem Weihnachtsbaum’: „Macht hurtig, Jenni. Zieh die Naue ein.“ Naue! Wie geheimnisvoll. „Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn.“ Das sind Sturmgeister. Sie brausen daher. Und was der Fischer ankündigt, bestätigt der Hirt: „’s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde.“

Was tut da die Erde? Sie scharrt Wächter? Scharrt, weil sie sich fürchtet vor dem Sturm, vor all den bösen Wesen, dem Talvogt, dem Firn, dem Mythenstein mit seiner kriegerischen Haube, Wachposten empor. Wächter scharrt die Erde!

Später, wenn man dann den „Tell“ in der Schule „hat“, kommt heraus: die Naue ist ein Boot, der Mythenstein ist ein Berg. Und nicht die Erde scharrt Wächter, sondern der Hund, der Wächter heißt, scharrt die Erde. Ist auch ganz schön, aber eigentlich war es noch schöner, als man noch nicht verstand …“

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Doch ist es auch wirklich derselbe Zauber, der bei Franz Hessel vom ollen Schiller ausgelöst wurde und heute vielleicht vom ‚Blaubär-Club’ ausgeht? Wird nicht gerade die Fantasie dadurch erst so richtig angestachelt, dass bei Schiller nur wenige Impulse gegeben werden und so viel der eigenen Vorstellung überlassen wird, während bei den Fernsehbildern buchstäblich nichts mehr zu wünschen übrig bleibt? Als bekennender moderner Idiot kann ich die Frage nicht so recht beantworten. Ich kann allerdings sagen, dass ich lieber Bücher schreibe als Drehbücher.

Für meine Tochter ist der Fall völlig klar: Ein Video ist viel besser als ein Buch. Da hat man mehrere Stimmen und nicht nur eine einzige, die einem etwas vorliest. Außerdem singen die richtig. Die können auch gut singen. Da ist nämlich gleich die Musik mit dabei. Die bewegen sich auch richtig. Und dann ist auf Videos einfach mehr drauf. Da gibt es sogar manchmal noch einen kleinen Vorspann als Zugabe.

Da liegt es doch auf der Hand, was besser ist. Wie kann man nur so blöde Fragen stellen? Außerdem, das muss sie nun wirklich mal loswerden, ist ihr das gar nicht geheuer, wenn ich dermaßen viel von Büchern halte, denn: „Weißt du was, Papa?! Die Bücher sagen auch nicht immer die Ehrlichkeit. Denk nur mal an die Blaubär-Bücher!“