„Käpt’n Blaubär ist tot“. Das meldet die Bild. Es ist keine Lüge, keine Fake-News. Leider nicht. Gemeint ist, dass Wolfgang Völz gestorben ist, his master’s voice, die Stimme des Herren, die Stimme des Bären.
Ich habe ihn kaum gekannt – nur von einigen Sprachaufnahmen, bei denen ich dabei war. Er hat mir, wenn ich nichts vergessen habe, einmal eine Postkarte geschrieben. Zu seinem 85. Geburtstag wollte ich ihm gerne eine Kleinigkeit schenken und habe es dummerweise verpasst. Das bedauere ich nun. Ich kann nur jedem empfehlen, in solchen Dingen nicht so nachlässig zu sein, wie ich es war.
Wolfgang Völz hat dem Käpt’n Blaubär nicht nur seine Stimme geliehen. Es war viel mehr – und es war nicht nur geliehen. Es war ein Geschenk. Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil der Beliebtheit, die der Bär für sich verbuchen kann, von seinem Konto eingezahlt wurde. Wenn man heute ein Bild vom Blaubär sieht – sei es eine Kinderzeichnung –, dann hat man sofort die unverkennbar mürrische Herzlichkeit seiner Stimme vor seinem inneren Ohr und muss unwillkürlich schmunzeln.
Wolfgang Völz hat dem Bären die Seele eingehaucht. Der Blaubär ist nämlich viel zu groß für ein Kuscheltier. Man spielt nicht mit ihm, der Blaubär spielt mit uns. Wie macht er das?
Man kommt nicht mehr aus dem Staunen heraus
Die Welt der Kinder ist voller Rätsel und Wunder. Um das zu beschreiben, sagt man gerne, dass man plötzlich in einen Zustand geraten ist, bei dem man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Je älter man wird und je mehr einem die Welt entzaubert wird, desto leichter fällt es einem, aus dem Staunen wieder herauszukommen.
Man hat dann eher das Problem, dass man nicht wieder in das kindliche Staunen, das man so gerne noch einmal erleben möchte, hineinkommt. Raus ist leicht, aber wieder rein ist schwer. Doch der Blaubär macht es möglich. Er macht es uns vor.
Dieses bisschen Wasser da in dem ollen Eimer, das ist … dieses bisschen Wasser da, das ist … das ist, das ist … das ist der letzte Rest vom Achten Weltmeer. Früher gab es nämlich acht Weltmeere, müsst ihr wissen. Und dieser einsame Gummistiefel da … nein, nein, das ist kein gewöhnlicher Gummistiefel … darin haust der gemeine Stiefelolm, ein äußerst heimtückisches Wesen. Und dieses seltsame Dreieck, das ihr da in der Rumpelkammer gefunden habt, Kinners, das dürft ihr nicht wegschmeißen. Das ist ein Zacken von Neptuns Krone.
Die Figur könnte leicht lächerlich sein. Es ist ein Opa, der keine rechte Autorität gegenüber den Kleinen hat, die sowieso alles besser wissen. Als Kapitän hat er auch schon bessere Tage gesehen. Mit seinen Lügengeschichten will er uns doch nur einen Bären aufbinden. Doch die Stimme von Wolfgang Völz macht aus dem pädagogischen Versager einen liebevollen Opa, er gibt der abgewrackten Seefahrer- und Abenteuerromantik noch mal eine eigene Stimme. Er lügt nicht wirklich, er ist die Gallionsfigur für eine Fantasie, die es gut mit uns meint und uns auf den Glanz des Paradiesstaubes hinweist, der gelegentlich in den kleinen Dingen aufscheint, und den wir beinahe nicht bemerkt hätten.
Die Kunst des Lügens
Wisst ihr eigentlich, wer die Pommes frites erfunden hat? Gut, das wisst ihr womöglich schon. Dann ich will ich mich anderen Fragen zuwenden. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf einige der most frequently asked questions einzugehen, die immer mal wieder an mich heranflattern. Also: Wie war das denn so mit dem blauen Bären? Nun mal ehrlich.
Am Anfang standen Gute-Nacht-Geschichten, die Walter Moers geschrieben und gezeichnet hatte. Das war der Urknall der Blaubär-Legende. Mit solchen Geschichten sollten die Kinder in den Schlaf gelogen werden. Hein Blöd war noch nicht mit an Bord und konnte noch nicht stören. Die Bärchen, von denen man nur die Köpfe sehen konnte, lagen schon im Bett, sie konnten noch nicht mit den Augen rollen, merkten aber sofort, wenn die Geschichte gelogen war.
Davon wollte die ‚Sendung mit der Maus‘ 104 Geschichten. Geschichten in der Art. 104 kann man gut durch 52 teilen. Das ergibt 2. Es reicht dann für 2 Jahre, in denen nicht etwa die Parole „Sonntags nie“ lautet, wie der berühmte Film, sondern: Sonntags immer. Danach sollten die Geschichten wiederholt werden, weil man davon ausging, dass es alle zwei Jahre neue Kinder gibt. Von diesen 104 Geschichten habe ich etwa ein Drittel geschrieben. Wir waren zu dritt am Werk: Walter Moers, Rolf Silber und ich.
Wir haben viel telefoniert, uns aber nicht großartig abgesprochen. Wir haben vor allem aufgepasst, dass es keine Überschneidungen gibt, ansonsten hat jeder gesehen, wie er zurechtkommt. Wir waren ein Team aus drei Einzelgängern: Rolf Silber war als Filmemacher bekannt, Walter Moers als Comic-Zeichner, ich als Kinderbuchautor.
Die Geschichten sind schon verschieden. Die echten Fans können schon lange vor dem Abspann erkennen, ob es eine Folge von Walter Moers, von Rolf Silber oder von mir ist. Als ich genug davon geschrieben hatte, wusste ich, wie es geht, ich hatte das Muster durchschaut und hätte leicht noch mehr Geschichten schreiben können. Aber es hätte dann vielleicht nicht mehr so viel Spaß gemacht wie in der ersten Zeit, als ich bei Morgennebel ins Ungewisse losgefahren bin. Spaß hat es schon gemacht. Nun war ja auch Hein Blöd dabei. Immerhin weiß ich jetzt, wie man lügt.
Drehbücher sind zum Drehen da
Meine Tochter mochte die Geschichten nicht. Sie war damals 2 oder 3 Jahre alt (jetzt ist sie 30, da kann man mal sehen, wie lange das schon her ist …), Kinder in dem Alter verstehen keine Ironie, sie mögen keine Doppelbödigkeit. Wenn der Blaubär mit einem Bügeleisen – mit dem Hein Blöd gerade die Plattfische gebügelt hat, die ja gerade deshalb Plattfische heißen, weil sie so platt sind – hinter Hein her rennt und droht „Ich bügele dir gleich deinen Schwanz!“, dann finden Kinder das nicht lustig.
Ihr Herz schlägt für Hein. Der ist lieb. Warum ist der Käpt’n so böse? Hein Blöd ist, wie ein Kind ist: Er ist tollpatschig, hat aber stets gute Laune. Er ist hilfsbereit und möchte alles selber machen, kann es aber nicht. Er ist wie Happy Jack aus dem Song von den Who: they dropped things on his back and lied, lied, lied, but they couldn’t stopp Jack from being happy.
Ich habe mal gehört, dass die Hein-Blöd-Wärmflasche die beliebteste Wärmflasche in Deutschland ist. Es würde mich nicht wundern. Irgendwas macht Hein Blöd richtig. Eine gewisse Wärme geht von ihm aus.
Dann habe ich Geschichten geschrieben, die es nicht etwa im Fernsehen, sondern in Buchform gibt. Ich habe das den Kindern so erklärt: Für das Fernsehen muss man Drehbücher schreiben, ich mag aber lieber Bücher zum Lesen. Deshalb musste ich die Bücher so lange drehen, so lange zurückdrehen, bis wieder normale Bücher daraus geworden sind.
Es stimmt sogar. Als ich klein war, gab es nicht nur kein Farbfernsehen, es gab überhaupt kein Fernsehen. Heute ist das anders. Ein Mädchen hat mir dann die Vorzüge des Fernsehens aufgezählt, damit ich das richtig verstehe. Nichts gegen Bücher, meinte sie, aber Fernsehen sei nun mal besser. Es sei nämlich so – also: Fernsehen ist eine natürliche Fähigkeit, Lesen muss man erst lernen. Das leuchtete mir ein.
In achtzig Lügen um die Welt
Dann war der Blaubär tot. Das dachte ich jedenfalls, als es eines Tages eine Käpt’n-Blaubär-Briefmarke gab. Ich war als Junge ernsthafter Sammler und war überzeugt davon, dass alle Helden, die auf Briefmarken abgebildet sind, inzwischen tot sind. Außer Juri Gagarin und Heuss (bei dem war ich nicht sicher). Ich hatte früher sogar gemeint, dass alle, die Bücher geschrieben haben – also Leute wie Mark Twain und Michael Ende – inzwischen tot sind. Es mochte zwar sein, dass es vereinzelt Bücher gab von Leuten, die noch lebten, aber die waren nicht so gut wie die Bücher von toten Dichtern. Es ist nicht der einzige Irrtum meiner Kinderzeit.
Es gab nicht nur Briefmarken. Inzwischen war ein buntes Blaubär-Merchandising herangewachsen mit vielerlei Sachen zum Spielen, zum Anziehen und zum Naschen – einschließlich einer Fußmatte mit Hein Blöd und einer Blaubär-Telefonkarte, mit der man am Telefon lügen durfte.
Ich habe sie alle: den Käpt’n in Lebensgröße (jedenfalls in der Größe, von der Kinder vermuten, dass der Bär aus dem Fernsehen so groß sein müsste), Hein Blöd und die drei kleinen Bärchen. Damit bin durch die Lande gereist und in Bibliotheken vor Anker gegangen.
Einmal war ein etwa dreijähriges Kind im Publikum, das mir erklärte: Den kenne ich … das ist der Blaubär … der kommt immer zu uns … Hier schlich sich eine Ahnung in die Stimme des Kindes. Es merkte plötzlich, dass es nicht alleine im Wohnzimmer war, sondern in der Bibliothek, zusammen mit anderen Kindern, die ebenfalls glaubten, dass der blaue Bär immer sonntags zu ihnen persönlich in die Wohnung kommt. So langsam dämmerte dem Kind, dass das Fernsehprogramm zu allen Kindern kommt. So ist das in der modernen Welt. Das Kind wirkte enttäuscht.
Ich habe deshalb versucht, den Kindern die Figuren wieder nah zu bringen und habe die kleinen Bärchen, Hein Blöd und den Kapitän zum Streicheln ausgeliehen. Dabei habe ich das wahrgemacht, was der Blaubär immer voller Stolz erzählt und was man ihm nicht so recht glaubt. Er sagt bekanntlich gerne, dass er schon überall auf Welt war.
Ich auch.
Der Blaubär war in Australien. Da habe ich mir mit australischen Deutschlehrern eine Geschichte ausgedacht, die erklärt, worum die Flagge Australiens so aussieht, wie sie nun mal aussieht. Ich war mit einem Kreuzfahrtschiff in Island und Spitzbergen und habe mir von den Kindern an Bord erklären lassen, dass die Eisbären früher alle blau waren, bis eines Tages … Einmal ist der Blaubär bekanntlich mit einer ganzen Ladung Eulen nach Athen gefahren, ich bin mit einer ganzen Ladung Lügengeschichten nach Kreta gereist. Der Weihnachtselch ist mit Tempo bis nach Ägypten gelaufen und ich habe vor Madagaskar gelegen und habe vor Madagaskar gelogen. Das ist wirklich wahr.
Mein wunderbares Leben, das ich mit dem blauen Bären geführt habe und das mich in den sieben Weltmeeren herumgeführt hat – bis hin zum Dümmer See –, das habe ich zu einem nicht geringen Teil dem Sound der Stimme von Wolfgang Völz zu verdanken. Das hätte ich ihm gerne selber mal gesagt.