Lügen in Zeiten des Farbfernsehens

 

„Das Wahre ist das Ganze.“ 

G.W.F. Hegel in der Vorrede zur ‚Phänomenologie des Geistes’

„ALLES LÜGE“

Beliebter Aufkleber, der den Werbespruch „ALLES FRISCH“ parodierte (und inzwischen auch wieder aus der Mode gekommen ist).

 

 

 

Der Blaubär lügt. Sowieso. Das wissen die Kinder natürlich. Immer, wenn ich sage: „Aber, bitteschön, er lügt doch nicht immer“, gibt es mit Sicherheit ein Kind, das sofort dazwischenruft: „Aber immer öfter!“

Sie kennen eben ihren Bären, der ihnen einen selbigen aufbinden will, – aus dem Fernsehen. Und daher kennen sie auch die Werbesprüche: „Clausthaler – alles, was ein Bier braucht.“

Einmal wollte ich anfangen, eine Lügengeschichte zu erzählen, als mich ein Kind, das vielleicht drei Jahre alt war, gleich wieder unterbrach: „Den kenn ich, den Blaubär, der kommt jeden Sonntag zu uns …“ – und noch während das arme Kind redete, konnte man die Enttäuschung (oder vielleicht auch nur eine Verwunderung) in seinem Gesicht ablesen, weil nämlich die anderen Kinder sofort betonten, dass sie den Blaubär auch alle kannten, dass er auch zu ihnen ins Wohnzimmer kam. Da musste, wie es aussah, irgendwas faul sein an der Sache.

In dem Buch ‚Am Fuß der blauen Berge’, in dem von der „Flimmerkiste in den 60er Jahren“ erzählt wird, gestehen zwei „bekennende Allesseher“, wie sie sich freiwillig nennen: „In der Frühphase des Fernsehens war es für uns Kinder eine ganz wichtige Erkenntnis festzustellen, dass aus jedem Fernseher das gleiche rauskam! Wenn man sich traf, hieß es: War bei euch gestern auch ‚Fury’ drin? Echt verrückt …“ Und der zweite Bekenner ergänzt: „Ja, weil das am Anfang so schwer vorstellbar war. Eine Tante von mir hat sich sonntags auch immer besonders fein angezogen zur Tagesschau, zum Köpcke. Weil die dachte, der sieht sie! Ist wirklich wahr.“

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Wir glauben es ja auch, halten das aber eher für eine Kuriosität am Rande, für die sich vielleicht Neil Postman begeistern könnte, oder Günther Anders, der die zunehmende „Phantomisierung“ beschreibt und dabei von Omas erzählt, die echte Babywäsche häkeln für den – natürlich rein fiktiven – Nachwuchs aus Familienserien.

Es soll eben Menschen geben, die mit ihrem trägen Herzen bei der rasanten Entwicklung des modernen Lebens nicht immer Schritt halten können und offenbar auch die Packungsbeilage zu Risiken und Nebenwirkungen nicht durchgelesen haben. Dabei war das noch die gute, alte Flimmerkiste in Schwarzweiß, bei der ein Unterschied zur Realität eigentlich evident sein sollte.

Dennoch. Ich kann mich gut erinnern, wie geradezu unerträglich spannend ich immer die „Abenteuer unter Wasser“ fand. Manchmal konnte ich die diese Spannung nur noch aushalten, indem ich versuchte, sozusagen durch die Bilder hindurch auf den Herstellungsprozess selber zu blicken, mir also beschwörend einredete, dass da noch jemand dabei sein musste, der das Geschehen gerade filmte.

Der würde doch nicht tatenlos zusehen, wie jemand unter Wasser eingeklemmt ist und keine Luft mehr kriegt, wenn er mit seiner Unter-Wasser-Kamera unmittelbar daneben steht und ihn retten könnte. Das war echt spannend. Diese Filme waren auch in Schwarzweiß. Und spielten obendrein unter Wasser.

Wie sollte das erst in Farbe werden? Denn mit dem Fortschritt der Technik wird unsere ach-so-vertraute Welt, wie jedenfalls viele glauben, immer verrückter, und die Trennlinie zwischen Echt und Falsch immer dünner.

Bestes Beispiel aus den achtziger Jahren: Ronald Reagan, der, wie wir alle wissen, den amerikanischen Präsidenten gemimt hat und zugleich wirklich der Präsident war, was mir stets wie eine Art moderne Inszenierung des ‚Hauptmann von Köpenick’ vorkam. Oder was – bitteschön – halten wir vom Film ‚Forrest Gump’? Oder von der Firma Pro Imaging Labs, die speziell für geschiedene Paare einen DivorceX-Service anbietet, bei dem Fotoalben mit neuen Scannern so manipuliert werden, dass alte Gruppenfotos beliebig neu gemischt werden können?

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Aber ist die Vermischung von Fantasie und Realität – von echt und unecht – wirklich neu? Dieses merkwürdig prickelnde Gefühl, sich dabei einer verbotenen Grenze zu nähern, hatte ich – ehrlich gesagt – schon öfter. Ich hatte das bereits im Jahre 1977, als ich mit inzwischen hoffnungslos überholten technischen Möglichkeiten einen Super-8-Film nachvertonte, und ich kann mich auch noch an den milden Schrecken erinnern, als ich das erste Mal meine eigene Stimme von Tonband hörte.

In Wahrheit stehen die meisten von uns all diesen Errungenschaften weder besonders begeistert noch besonders skeptisch gegenüber, sondern einfach gleichgültig. Weil es alles gar nicht so neu ist.

Schon die Römer (falls das nicht auch wieder nur so ein Gerücht ist) hatten Spektakel, bei denen bei jeder Aufführung ein Schauspieler geopfert wurde, man musste halt jedes Mal einen neuen Sklaven in die Arena schicken, der da dann – live – einen nur gespielten und zugleich echten Tod sterben musste.

Und je mehr ich über das Lebensgefühl der barocken Welt lese, desto mehr habe ich den Eindruck, als hätten sich die Menschen damals mit ihren pompösen Opern, ihren Jagd- und Schäferspielen und den Inszenierungen eines aufwendigen, höfischen Lebens eine bewusste Künstlichkeit geschaffen, über deren „Firnis von Unwirklichkeit“, wie es Wolf von Niebelschütz nennt, sie sich durchaus bewusst waren. Ludwig der XIX. soll sogar eine Perücke mit Gucklöchern gehabt haben, durch die sein echtes Haar besser zur Geltung kam.

Und in einem Roman von George Simenon, der zum größten Teil in der Südsee spielt und ein existenzialistisches Gefühl der 30er Jahre beschreibt, steht ganz unauffällig der lapidare Satz: „Alles war wirklich und unwirklich zugleich“. Eben. Genauso stelle ich mir das auch vor. Nicht nur in der Südsee.

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Es ist also, wie ich vermute, kein spezielles Problem der Computerkids, deren Eltern mit Happenings groß geworden sind. Es ist keine Frage einer neuen technischen Errungenschaft. Es ist das Drama und das Glück eines jeden Kindes, ob nun begabt oder unbegabt, dass ein Spiel zugleich ernst ist.

Sehr schön hat das mal mein Bekannter Lasse gezeigt, der – vielleicht im Alter von acht Jahren – noch lange nach Aschermittwoch immer noch mit seinem Indianerkostüm rumgelaufen ist und damit sogar ins Bett gegangen ist, bis es seine Mutter nicht mehr mit ansehen konnte und schimpfte: „Jetzt zieh endlich diese albernen Klamotten aus, Fasching ist vorbei.“

Daraufhin hat Lasse sich in die Brust geworfen und seiner Mutter stolz erklärt: „Du weißt wohl nicht, mit wem du redest: Ich bin Winnetou!“

So ist es auch keine Überraschung, dass wir uns all den technischen Neuerungen gegenüber selber immer wieder wie Kinder verhalten. Die Weltraumfahrt hat uns alle zu Kindern gemacht, heißt es, doch auch ein einfaches Fax-Gerät erscheint so manchem Erwachsenen wie ein kleines Wunder; und ein großer Teil der Möglichkeiten auf CD-ROM ist natürlich auch bloß – ich gebe es offen zu – die reine Spielerei, für das Kind im Manne, oder für das Kind im Kinde.

Na und? Videos und Computerspiele sind längst nicht so gefährlich wie Ritterbücher. Da kann es nämlich passieren, dass man den Sinn für die Realitäten völlig verliert und Windmühlen mit Ungeheuern verwechselt.

Die Kinder haben heute nicht nur Bücher mit bunten Bildern (meine Tochter hat dazu gleich die einschlägigen Kategorien gebildet „langweilige Bücher“ = „ohne Bilder“ und „nicht-langweilige Bücher“ = „mit bunten Bildern“). Zusätzlich haben die jungen Konsumenten von heute einen Gameboy, ein Polly Pocket, ein Video, eine Kassette fürs Auto und eine Puppe, die womöglich sprechen kann – von einem Tamagochi ganz zu schweigen.

Da denkt ein Kulturkritiker natürlich sofort, dass es für die Kleinen schwer sein muss, noch zwischen Echt und Unecht zu unterscheiden. Hinzu kommt ja, dass viele dieser Bücher, ob nun langweilig oder nicht, der Fantasie der Kinder recht geben, etwa nach dem Schema: Ein Kind sieht ein Krokodil unter dem Bett, die Erwachsenen leugnen das natürlich, aber das Krokodil ist „wirklich da“ – es wird auch abgebildet. Die Erwachsenen sehen es nur nicht, weil sie eine eingeschränkte Wahrnehmung haben. Karlsson vom Dach gibt es auch „in Echt“, selbst wenn die Eltern das heftig abstreiten, man sieht ihn aber richtig fliegen, in Farbe, nicht etwa unter Wasser, sondern hoch in der Luft, ohne dass ein Faden erkennbar wäre.

Schwere Bedenken hatte ich bei einer großen Saurier-Ausstellung, bei der sich die Viecher nicht nur bewegten, sondern obendrein einen ziemlichen Lärm machten, der wohl irgendwie prähistorisch wirken sollte. Meine Tochter nahm es allerdings gelassen. Sie hatte gleich gemerkt, dass die Saurier nicht echt waren, sondern „nur mit Batterie“.

Die ‚Augsburger Puppenkiste’ dagegen kann viel aufregender sein, auch wenn die gar nicht erst versuchen, so zu tun, als wären die Puppen echt. Ein Faden ist immer im Bild und das Meer ist ganz offensichtlich eine Plastikfolie.

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Käpt’n Blaubär gibt es inzwischen auch als Video, als Kassette, als Kuscheltier, als Lampion, als Tütenkasper, als Comic, als Wärmflasche, als Schlauchboot, als Spardose, als Girlande, als Bettlaken, als Waschlappen, als Fingerpuppe, als Kolleg-Mappe, als T-Shirt, als Zelt, als Malbuch mit Buntstiften, als Luftmatratze, als Kalender, als Krawattennadel, als Puzzle, als Fensterbild, als Mountain Bike, als Handpuppe, als Kochbuch, als Schwimmflosse, als Faschingskostüm, als Fußabtreter, als Mini-Steckspiel, als Trinkbecher und als Spiel ‚Wahr oder gelogen?’

Und doch – oder gerade deshalb? – enttäuscht der Blaubär die Kinder, wenn sie ihn unvermutet als Puppe in der Post beim Weltspartag treffen oder im Schaufenster einer Buchhandlung. Vielleicht enttäuscht er sie nicht ganz so sehr wie die popelige Radkappe, die wir als Raumschiff ‚Orion’ kennen, aber womöglich so ähnlich: Der redet ja gar nicht und rollt auch die Augen nicht. So habe ich schon erlebt, dass mich Kinder nach einer aus meiner Sicht durchaus geglückten Vorstellung gefragt haben: „Wann fängt es denn an?“

Auch meine Tochter hat sich schon ihre Gedanken über den Charakter der Massenmedien gemacht, als sie nämlich mal die Gruppe Kunterbunt beobachtet hat, die nach dem Konzert Kassetten verkaufte: „Haben die jetzt auf jede Kassette neu draufgesungen“, hat sie gefragt, „oder haben die nur eine Kassette gemacht und die dann immer wieder überspielt?“

Diese Frage ließ sich wenigstens beantworten. Andere waren nicht so leicht zu erklären. Mein alter Mathematiklehrer hatte mal die Losung ausgegeben, dass jeder, der ein Telefon benutzt und nicht weiß, wie es funktioniert, ein moderner Idiot ist. Und als bekennender moderner Idiot muss ich zugeben, dass ich bei manchen Fragen einfach passen musste. Geht es bei den Kinderfragen ja auch gar nicht darum, technische Vorgänge erklärt zu kriegen, sondern vielmehr darum, so etwas wie Anteilnahme herzustellen, wenn meine Tochter etwa im Verkehrsfunk, der über die ARI-Funktion die Kinderkassette unterbricht, gehört hat, dass auf der A7 spielende Kinder auf der Fahrbahn sieht, und sie dann besorgt fragt: „Kennen wir die?“

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Da ist es dann gar nicht so leicht, zu erklären, dass diese Medien keineswegs so durchlässig und verfügbar sind, wie sie gerne tun, wenn sie doch, um noch mal Günther Anders zu bemühen, immer wieder „mit dem duzen anfangen“, und beispielsweise einen Brief vorlesen: „Hier schreibt uns Benjamin aus Bochum, der wissen will, wie die Löcher in den Käse kommen“: Meine Tochter hat auch eine Menge Fragen – warum kommen wir nicht mal dran? Hier spürt sie vermutlich eine ähnliche Enttäuschung (oder auch nur Verwunderung) wie dieses dreijährige Kind, das ich am Anfang erwähnt habe. Und was ist eigentlich – das möchte ich nämlich selber gerne wissen – inzwischen aus diesen Kindern geworden, die auf der A7 gespielt haben? Das sagt einem ja auch keiner.

Nein, das Fernsehen lässt die Kinder nicht wirklich Anteil nehmen. Sie leugnen ihren Charakter als Massenmedium. Sie wollen – und können – auch gar nicht so zugänglich sein, wie sie tun. Sie scheinen sich einig zu sein, dass man den Kindern in Wirklichkeit gar keinen Gefallen tut, wenn man ihnen allzu sehr entgegenkommt und sich womöglich kindgerecht gebärdet.

Im Fernsehen tut man das nicht. Da werden Familienprogramme gemacht, als wären die Familien noch intakt; und man geht sicherheitshalber davon aus, dass Kinder überfordert werden wollen. Als Autoren sollten wir sogar vorsätzlich Scherze in die Lügengeschichten reinschreiben, die Kinder nicht verstehen können. Wenn sie nämlich zu hundert Prozent alles verstehen, fühlen sie sich schon zu alt, dann ist das „Kinderkram“, dann wollen sie lieber – wenn auch nur scheinbar – teilhaben an der Welt der Großen, auch zu dem Preis, dass sie nicht alles verstehen.

Sollen die Kinder also getrost ein bisschen staunen. Gerade das macht ja das Glück und die Magie der Kinderwelt aus.

So beschreibt es jedenfalls Franz Hessel in seiner ‚Lektüre unter dem Weihnachtsbaum’: „Macht hurtig, Jenni. Zieh die Naue ein.“ Naue! Wie geheimnisvoll. „Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn.“ Das sind Sturmgeister. Sie brausen daher. Und was der Fischer ankündigt, bestätigt der Hirt: „’s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde.“

Was tut da die Erde? Sie scharrt Wächter? Scharrt, weil sie sich fürchtet vor dem Sturm, vor all den bösen Wesen, dem Talvogt, dem Firn, dem Mythenstein mit seiner kriegerischen Haube, Wachposten empor. Wächter scharrt die Erde!

Später, wenn man dann den „Tell“ in der Schule „hat“, kommt heraus: die Naue ist ein Boot, der Mythenstein ist ein Berg. Und nicht die Erde scharrt Wächter, sondern der Hund, der Wächter heißt, scharrt die Erde. Ist auch ganz schön, aber eigentlich war es noch schöner, als man noch nicht verstand …“

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Doch ist es auch wirklich derselbe Zauber, der bei Franz Hessel vom ollen Schiller ausgelöst wurde und heute vielleicht vom ‚Blaubär-Club’ ausgeht? Wird nicht gerade die Fantasie dadurch erst so richtig angestachelt, dass bei Schiller nur wenige Impulse gegeben werden und so viel der eigenen Vorstellung überlassen wird, während bei den Fernsehbildern buchstäblich nichts mehr zu wünschen übrig bleibt? Als bekennender moderner Idiot kann ich die Frage nicht so recht beantworten. Ich kann allerdings sagen, dass ich lieber Bücher schreibe als Drehbücher.

Für meine Tochter ist der Fall völlig klar: Ein Video ist viel besser als ein Buch. Da hat man mehrere Stimmen und nicht nur eine einzige, die einem etwas vorliest. Außerdem singen die richtig. Die können auch gut singen. Da ist nämlich gleich die Musik mit dabei. Die bewegen sich auch richtig. Und dann ist auf Videos einfach mehr drauf. Da gibt es sogar manchmal noch einen kleinen Vorspann als Zugabe.

Da liegt es doch auf der Hand, was besser ist. Wie kann man nur so blöde Fragen stellen? Außerdem, das muss sie nun wirklich mal loswerden, ist ihr das gar nicht geheuer, wenn ich dermaßen viel von Büchern halte, denn: „Weißt du was, Papa?! Die Bücher sagen auch nicht immer die Ehrlichkeit. Denk nur mal an die Blaubär-Bücher!“